„Mama?“, brachte Latifa mit erstickter Stimme hervor. Sie musste sich zusammenreißen, nicht sofort in Tränen auszubrechen. Sie hatte geplant Herr ihrer Gefühle zu bleiben und auch wenn die Tränen durchzubrechen drohten, konzentrierte sie sich darauf, diese zurückzuhalten. Dafür versagte ihre Stimme vollkommen und sie brachte nur noch stumme Laute von sich.
„Bist du es wirklich?“, rief die ältere Frau zu ihr herüber. „Latifa, meine Latifa! Du hast es geschafft. Ich habe keine Sekunde daran gezweifelt!“
Mit großen Schritten eilte sie zu ihrer Tochter. Latifa rührte sich nicht vom Fleck. Ihre Mutter kam vor ihr zum Stehen. „Latifa, ich bin so stolz auf dich!“
Latifa konnte nichts sagen, sie kämpfte mit den Tränen. Die Worte steckten im Hals fest.
„Lass dich ansehen.“ Maya umfasste ihr Gesicht, zeichnete die Züge mit den Fingern nach und ließ ihre Hände über die Schultern auf Latifas Oberarme hinabgleiten. Dort ruhten sie nun und gaben eine wohlige Wärme ab. Latifa fühlte sich schlagartig geborgen, trotzdem sie ihre Mutter eigentlich nicht kannte.
„Ich bin so froh, dich zu sehen! Was habe ich euch vermisst, all die Jahre habe ich auf diesen Moment gewartet und nun ist es endlich so weit. Es tut mir leid, dass ich nicht für euch da sein konnte, so wie ihr es verdient hättet. Wie gerne hätte ich euch aufwachsen sehen, aber ich konnte nicht riskieren euch in Gefahr zu bringen. Es tut mir so leid, ich hoffe, du kannst mir das verzeihen.“
„Ich kann nicht glauben, dass du tatsächlich lebst“, erwiderte Latifa leise.
„Ich konnte es selbst nicht glauben.“ Mayas Gesicht verdüsterte sich und sie warf die Stirn in Falten. „Der Meeresteufel ist eine widerliche Bestie. Aber nichtsdestotrotz wurde mir eine zweite Chance geschenkt. Nicht nur fürs Leben, sondern nun auch für meine Familie. Ich bin so gespannt zu erfahren, wie es euch ergangen ist. Eines habe ich bereits feststellen können: Du bist eine herausragende Taucherin, Latifa. Wie du dem Hai eine verpasst hast, war unglaublich. Ich bin stolz auf dich.“
„Du hast es gesehen?“ Latifa wischte sich eine Träne von der Wange.
„Nicht nur das.“ Maya drehte sich herum. „Komm, wir setzen uns hin. Magst du etwas trinken? Du hast eine lange Reise hinter dir.“
Latifa folgte ihrer Mutter und sah sich dabei etwas um. Es erweckte den Anschein, als führte ihre Mutter hier ein ganz normales Leben. Zwar bescheiden in einer kleinen Holzhütte und mit dem was sie selbst für sich anbaute, aber nichts ließ vermuten, dass es das Leben einer Meerjungfrau war.
„Eines verstehe ich nicht. Wenn du jetzt eine Meerjungfrau bist, wieso lebst du dann hier, an Land? Welchen Unterschied macht es, ob du bei uns gewesen wärst, wenn du so lebst?“
„Das ist eine gute Frage, Latifa.“ Die Bank knarzte, als sich Maya setzte. „Es ist nicht so einfach, dir das zu beantworten. Es ist tatsächlich so, dass wir Meerjungfrauen normalerweise unter Wasser leben. Allerdings kann ich das nicht mehr tun, weil ich nicht mehr tauchen kann. Der Meeresteufel ...“
Maya schloss die Augen und sah das ungeheuerliche Biest wieder vor Augen, wie es auf sie zugestürmt kam, nachdem sie es geschafft hatte Latifa an Deck zu befördern. Sie schüttelte die Erinnerung ab und fuhr fort.
„... ich war zu langsam. Er griff mich an und riss meine Schwanzflosse auseinander. Ich kann damit nicht mehr schwimmen.“
„Warum hat er dich angegriffen?“ Latifa ahnte es, wollte es aber von ihrer Mutter hören.
Maya bedachte ihre Tochter mit einem Lächeln auf den Lippen.
„Meerjungfrauen müssen sich von normalen Sims fernhalten. Der Meeresteufel passt auf, dass die Gesetze des Ozeans eingehalten werden. Verstößt man dagegen ... Tja, dann kann es übel enden. Zweimal habe ich es gerade so überlebt, andere haben nicht so viel Glück.“ Maya seufzte. „Aber das Risiko war es wert und auch wenn ich wohl nie wieder in das Unterwasserreich hinabtauchen kann und hier abgeschieden lebe, würde ich es sofort wieder tun, um dich zu retten.“
Maya blickte nachdenklich hinauf in den Himmel.
„Es tut mir leid, dass du wegen mir deine Schwanzflosse eingebüßt hast.“
Maya lächelte und legte ihre Tochter die Hand auf den Oberschenkel. „Ohne dieses Risiko säßest du jetzt nicht neben mir. Wie gesagt, ich würde es jederzeit wieder tun.“
„Aber wenn du jetzt gezwungen bist an Land zu leben, was spricht dagegen, dass du zu uns ziehst? An Land kann dir der Meeresteufel doch nichts anhaben.“
Maya schüttelte den Kopf. „Nein, ich würde euch damit nur unnötig in Gefahr bringen. In Isla Paradiso ist man auf den Ozean angewiesen. Dieses Risiko bin ich nicht gewillt einzugehen. Mir bleibt sowieso nicht mehr viel Zeit. Der Meeresteufel weiß nicht, dass ich hier lebe. Was glaubst du, warum ich hier so abgeschottet lebe?
Um niemanden in Gefahr zu bringen. Die Insel ist unbewohnt. Einzig einigen Meerjungfrauen ist sie bekannt. Hinni schlug vor, dass ich mich hier verstecke. Der Meeresteufel ist hinter mir her, weil ich ihn zum wiederholten Male einen Strich durch die Rechnung gemacht habe. Solange er nicht weiß, dass ich hier lebe, bist du sicher. Du kannst mich besuchen kommen, wie du magst und ich brauche mir keine Sorgen, um dich zu machen. Ich achte darauf, mich möglichst auf dieser Lichtung aufzuhalten. Hier habe ich alles, was es zum Überleben brauch.“
„Latifa, ich hoffe, dass du mich, jetzt wo du weißt, dass ich noch lebe, besuchen kommst. Ich hoffe auch, dass du auch deinen Vater und deinen Bruder mit herbringst. Wir können die vergangene Zeit zwar nicht ungeschehen machen, wir können aber die Zeit, die uns noch bleibt, nutzen und gemeinsam verbringen.“
Maya lehnte den Kopf gegen die Hauswand und sah nachdenklich in den Himmel, der durch die Baumkronen hindurchschimmerte.
Latifa atmete hörbar ein. Natürlich würde sie ihre Mutter besuchen, allerdings zog sich ihr Magen bei dem Gedanken zusammen, dass ihre Mutter offenbar nicht wusste, dass ihr Ehemann nicht mehr am Leben war.
„Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll ... aber“, Latifa seufzte. „Es tut mir leid, Paps wird dich nicht besuchen können. “
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