„Ich habe schon mit so etwas gerechnet. Dennoch wollte ich mir nicht den letzten Funken Hoffnung nehmen lassen“, erklärte Maya, nachdem sie von ihrer Tochter über den Tod ihres Mannes informiert wurde.
„Es tut mir leid, dass ich dir die traurige Nachricht überbringen musste.“
„Das brauch dir nicht leidtun.“ Beide verstummten.
Latifa spürte die warme Brise auf der Haut, blickte hinauf in den Himmel und auf das, was zwischen den Baumkronen zu sehen war. Sie begann mit den Beinen zu zappeln.
Maya neigte den Kopf hin und her, bevor sie es ihrer Tochter gleichtat und hinaufblickte. „Ich genieße es sehr, dass du hier bei mir bist."
Latifa konnte sich nicht helfen, aber je mehr Zeit verging, umso mehr düstere Gedankenwolken zogen auf. Die anfängliche Freude über das Wiedersehen wich verzweifelten Fragen. So sehr sie auch grübelte, fielen ihr auf ihre unzähligen Fragen keine zufriedenstellenden Antworten ein.
„Du hättest uns eine Nachricht zukommen lassen können. Wir hätten dich suchen können, vielleicht hätte Papa es dann noch geschafft dich zu finden!“, brach es aus ihr heraus.
Vorbei war das frohe Wiedersehen und Maya erwiderte: „So einfach, wie du dir das vorstellst, ist das alles nicht, Latifa. Denk dran, wie lange du deine Tauchfähigkeiten trainieren musstest, welche Gefahren du auf dich nehmen musstest, um hierher zu gelangen. Was hätte eine Nachricht gebracht, wenn sie uns nicht zusammengeführt hätte?“
„Wir hätten zumindest die Gewissheit gehabt, dass du noch lebst. Wir hätten einen Anreiz gehabt für dich zu kämpfen. Aber so ... wäre ich nicht zufällig zum Perlengrund gekommen, hätte ich dich doch nie gefunden.“
„Du hättest sowieso den Perlengrund vorher erkunden müssen, daran hätte eine Nachricht von mir nichts geändert. Das wäre das Risiko nicht wert gewesen.“
„Eine Nachricht hätte alles geändert. Du hättest es zumindest versuchen können.“ Latifa wurde wütend. Sie wollte nicht glauben, dass ihre Mutter tatsächlich ihr Möglichstes getan hatte. Und selbst wenn es so war, wollte sie nicht glauben, dass es keinen anderen Weg gegeben hätte. Sie hatten so viel gemeinsame Zeit verloren.
Wer wusste schon, wie ihr Leben sonst verlaufen wäre? Vielleicht wäre es ihr einfacher gefallen sich an jemanden zu binden, vielleicht hätte sie dann nicht mit Bindungsängsten kämpfen müssen, die sie ihr Leben lang begleiteten und offensichtlich auch die letzte Möglichkeit einer aufkeimenden Beziehung zu Nichte gemacht hatten.
„Craig Foster, woher kennt er dich?“
Maya schlug die Hände auf die Oberschenkel und stand auf.
„Wichtig ist, dass er dir geholfen hat, mich zu finden.“
„Wichtig ist auch, wieso er dich kennt.“
„Weil er wohl am besten die Situation verstehen kann. Er macht dasselbe durch und wollte nicht, dass mich die Einsamkeit auffrisst. Er hat mir Hoffnung geschenkt. Als du ihn aufgesucht hast, wegen der Insel der Zuflucht, hat er mir davon erzählt.“
„Warum hat er das alles verschwiegen? Kann hier niemand offen und ehrlich sein? Muss alles ein Rätsel sein?“
„Latifa, ich weiß, das alles ist nicht einfach für dich. Aber du musst mir glauben, dass wir nur dein Bestes wollten. Jetzt bist du hier, sollte das nicht das entscheidende sein?“
„Ich wünschte es wäre so einfach ...“ Latifa ließ die Schultern hängen. „Das ist alles so unglaublich, ich möchte es doch nur verstehen.“
„Das wirst du, irgendwann, versprochen.“ Maya wagte den Versuch, ihre Tochter in die Arme zu nehmen. Erleichtert stellte sie fest, dass Latifa sie gewähren ließ.
„Aber nicht alles auf einmal ... Bitte, lass uns erstmal die Zeit genießen. Wir haben so viel nachzuholen. Und wir dürfen nicht vergessen, dass du nicht ewig hierbleiben kannst.“
Latifa löste sich aus der Umarmung und nickte. Aber sie merkte, dass das nicht funktionieren würde. Sie konnte nicht genießen, wenn ihr der Kopf wegen all der verwirrenden, offenen Fragen schwirrte. Auch wenn sie nicht direkt die nächste Beziehung zerrütten und ihre Mutter nicht von sich stoßen wollte, wie es in ihrer Natur zu liegen schien, forderte sie: „Ich muss es wissen! Tut mir leid, aber ich kann mich nicht mit „irgendwann“ zufriedengeben. Zumindest ein Zeichen, warum war das nicht möglich, wenn du offensichtlich Kontakt zu jemanden hattest, der an Land lebt. Warum Craig und nicht wir, deine Familie?“
Maya presste die Lippen aufeinander und sah mit wässrigen Augen Latifa an. Ihre Lippen zitterten, als sie zu sprechen begann.
„Ich hatte Angst. Einfach nur Angst. Schau mich an, ich bin kein normaler Sim mehr, ich bin etwas anderes, etwas, das es eigentlich nicht gibt. Ich hatte Angst, dass ihr nichts mit mir zu tun haben, dass ihr nicht daran glauben wollt, dass ich zwar am Leben aber kein SIM mehr bin.“
„Aber du bist unsere Mutter!“, entgegnete Latifa.
Maya drehte sich herum, raufte sich die Haare und Latifa stellte bewundert fest, wie ihre Mutter es schaffte, sich dabei nicht die Frisur zu zerstören. Dann drehte ihre Mutter sich verzweifelt wieder zu ihr herum.
„Sag mir ehrlich, Latifa. Hättest du Craig denn geglaubt, wenn er euch das einfach so erzählt hätte?“
„Ich weiß es nicht.“, gab Latifa ehrlich zu, nachdem sie einen Moment über die Frage nachgedacht hatte. „Craig ist zugegeben ein komischer Kauz, aber es hätte zumindest Zweifel gesät, vielleicht hätten wir uns so schon viel eher wiedersehen können.“
„Vielleicht, ja. Aber es wäre immer gefährlich gewesen. Das wir uns jetzt doch noch ohne großes Risiko treffen können, verdanken wir den letzten paar Wochen.“ Maya lachte verbittert auf.
„Ja, wir verdanken es sogar dem Meeresteufel, da ich durch ihm hier gelandet bin. Vorher wäre das niemals möglich gewesen, Latifa. Welch Ironie, wenn man bedenkt, dass der Meeresteufel uns erst voneinander getrennt und nun wieder zusammengeführt hat. Dank Craig weiß ich, wie schlimm es für euch hätte sein können. Ich hielt es für das beste so. Ich hoffe, du kannst mir verzeihen, auch wenn du die Entscheidung nicht verstehen kannst. Aber bitte glaube mir, ich hatte immer nur euer Bestes im Sinn. Immer.“
Ja, Latifa glaubte ihr. Auch wenn sie die Entscheidung nicht guthieß, glaubte sie ihrer Mutter. Sie wollte ihr glauben.
Einige Sekunden sahen sie einander an. Dann lächelte Latifa. Auch wenn nicht all ihre Fragen geklärt waren, wollte sie versuchen die Zeit mit ihrer zurückgewonnenen Mutter zu genießen. „Willst du mich nicht rumführen und mir zeigen, wie du lebst?“
Maya erwiderte erleichtert das Lächeln und hakte sich bei ihrer Tochter ein, um sie rumzuführen. Froh, dass sie die schwierigen Themen vorerst ruhen lassen konnten. Während Maya ihr kleines Reich präsentierte, verdrängte Latifa die nächsten aufziehenden Gedankenwolken.
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