Woche 10, Tag 4 - Mittwoch
„Vergiss nicht deine Gedanken zu nutzen, um mit mir zu kommunizieren, wenn wir unter Wasser sind. Ich kann sie dann lesen.“
Hinni hatte Latifa bereits gestern darüber informiert, als sie sie nach Hause gebracht hat. Viel Zeit zum Reden hatten sie nicht gehabt, am Ende hatte Hinni sie in eine Strömung gejagt, welche sie in einem rasanten Tempo wieder zum Startpunkt befördert hatte. So schnell es auch gegangen war, so sehr hatte der kurze Ritt auf der Strömung geschlaucht. Die Meerjungfrau hatte sich alsbald von ihr verabschiedet und heute bereits auf sie gewartet, als sie zum vereinbarten Treffpunkt gelangt war.
Sie tauchten in die Tiefen hinab und Latifa dachte an die Frage, die sie die ganze Zeit beschäftigt hatte.
Was kannst du mir über meine Mutter erzählen?
Während Hinni sie durch die Tiefen des Ozeans führte, erzählte sie:
„Maya, deine Mutter, beobachtete dich schon länger. Sie war so dankbar, als sie dich das erste Mal beim Tauchen entdeckt hatte und hat seitdem immer ein wachsames Auge auf dich gehabt.“
Hinnis Miene verfinsterte sich. „Leider hatte sie das Pech bei der ersten Rettungsaktion vom Meeresteufel erwischt zu werden. Du musst wissen, dass es uns Meerjungfrauen nicht erlaubt ist Kontakt zu euch Normalsterblichen aufzunehmen. Das ist das oberste Gebot.
Das heißt, wir dürften uns eigentlich gar nicht treffen, weil die Gesetze der Meeres es verbieten?
Hinni nickte und Latifa verdaute die Erkenntnis, dass ihre Mutter eine Meerjungfrau sein sollte.
„Du musst wissen, dass die äußeren Umstände sie zu dem gemacht haben, was sie heute ist.“
So etwas hat Craig auch angedeutet. Aber leider ging er nicht näher ins Detail. Was bedeutet das?
„Es gab vor langer Zeit nur eine Möglichkeit, sie vor dem Tod zu bewahren und das war sie in eine Meerjungfrau zu verwandeln. Dadurch wurde ihr zwar ihr Leben geschenkt, aber den Kontakt zu ihrer Familie, zu ihrem Mann und ihren Kindern, musste sie dafür aufgeben. Sie hat sehr darunter gelitten. Ich glaube, sie wäre sogar lieber gestorben, zumindest wäre es mir an ihrer Stelle so ergangen. Aber sie hat nie den Mut verloren und die Hoffnung nicht aufgegeben euch irgendwann wieder zu sehen.“
Hinni blickte zu Latifa und lächelte. „Offensichtlich hat es sich gelohnt.“
Wie konnte sie zur Meerjungfrau werden, wenn sie zuvor ein normaler Sim war?
Bevor sie erklärte, wartete Hinni darauf, dass Latifa zu ihr aufholte:
„Ihr wurde Meerjungfrauen-Tang verabreicht. Dadurch konnte sie sich verwandeln.“
Meerjungfrauen-Tang?
Hinni legte Latifa ein Blatt in die Hand. Neugierig inspizierte Latifa das Stückchen Tang zwischen ihren Fingern.
Was ist mit dir? Bist du auch so zur Meerjungfrau geworden?
„Nein, ich bin eine Meerjungfrau durch und durch.“ Hinni lächelte, überlegte kurz und erklärte: „Es gibt mehrere Wege. Aber der einfachste ist es, Meerjungfrauen-Tang zu essen. Dadurch entwickelt man schuppige Beine. Nutzt man diese Zeit, um sich viel in Wasser aufzuhalten, entwickelt sich aus den Beinen eine Schwanzflosse. Geht man an Land, verwandelt sie sich zurück und umgekehrt. Allerdings geht das nur, solange man schuppige Beine hat. Ist man zu lange an Land, trocknen die Schuppen irgendwann aus und fallen ab.“
Hinni hielt inne und deutete nach oben.
„Es ist nicht mehr weit. Wir müssen hier auftauchen, den Rest legen wir an der Oberfläche zurück.“
Latifas Herz überschlug sich vor Aufregung.
Werde ich sie gleich wiedersehen? Meine Mutter, meine ich.
Hinni nickte.
Das war alles so unwirklich, dass Latifa den Rest der Strecke in nachdenkliches Schweigen verfiel. Sie versuchte ihre Gedanken zu sortieren, überlegte, was sie ihrer Mutter sagen sollte. Wie würde es wohl sein? Hinni bekam zwar all die Gedanken mit, ging aber nicht darauf ein. Sie spürte, dass ihre Begleitung etwas Zeit für sich benötigte. So schwammen beide schweigend die letzten Meter des Weges durch eine dicke Nebelwolke. Hinni hatte Latifa an der Hand gepackt und zog sie in einem schwindelerregenden Tempo durch das Wasser.
Das Wasser flachte langsam, mit jedem zurückgelegten Meter, ab und als sie im stehtiefen Wasser ankamen, wateten sie den Rest zum Strand.
„Willkommen in der Meerjungfrauen-Bucht!“ Hinni breitete die Arme aus und zeigte über die großflächige Insel.
„Dort oben. Geh auf den Hügel und dann nach rechts. Du kannst es nicht übersehen.“
„Kommst du nicht mit?“
„Nein, ich muss los. Umso länger ich hier bin, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Meeresteufel Wind davon bekommt. Aber glaub mir, du schaffst das und außerdem wartet deine Mutter schon auf dich. Geh schon, na los!“
Hinni scheuchte mit einer wedelnden Handbewegung Latifa auf den Hügel.
Nach einigen Sekunden lachte sie und rief Latifa hinterher: „Grüße deine Mama von mir, bis bald!"
Latifa seufzte und trotzdem sie es kaum erwarten konnte ihrer Mutter nach so vielen Jahren zu begegnen, trugen sie ihre Beine in einem Schneckentempo vorwärts.
Mit jedem Schritt wogen ihre Beine schwerer.
Als Latifa eine unscheinbare Hütte inmitten einer Lichtung zwischen den tropischen Büschen ausmachen konnte, blieb sie stehen. Eine Frau hockte zwischen Sträuchern und summte vor sich hin.
Latifa beobachtet sie und traute sich nicht, etwas zu sagen oder sich anderweitig bemerkbar zu machen.
Einige Minuten stand sie regungslos da und sah ihrer Mutter dabei zu, wie sie ihren Garten pflegte. Bis sie sich nach einiger Zeit erhob und in ihre Richtung blickte.
Als sich ihre Blicke trafen, erstarrte Latifa.
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