Als die Nacht hereinbrach, blickte Latifa nachdenklich hinauf zum Himmel.
„In der letzten Vollmondnacht habe ich einen Gesang gehört und dabei das Gefühl gehabt, dass jemand nach mir gerufen hat.“
Sie sah ihre Mutter an, die ihren Blick lächelnd erwiderte.
„Und du fragst dich, ob ich das gewesen bin?“ Maya nickte. „Ja, das war ich. Und ich bin froh, dass es zumindest dieses eine Mal angekommen zu sein scheint. Bei Vollmond verstärken sich die Kräfte aller Wasserwesen und so hegte ich die Hoffnung, dass ihr mich irgendwann hören könnt.“
„Ich glaube, als Kind habe ich das auch hin und wieder wahrgenommen. Aber früher habe ich das natürlich als Hirngespinst abgetan. Auch wenn ich mir immer mal gewünscht hatte eine Meerjungfrau zu sehen. Oder eine zu sein!“ Latifa lachte.
Dann dachte sie an den Meerjungfrauen-Tang, den ihr Hinni gegeben hatte. Sie könnte sich in eine Meerjungfrau verwandeln und bei ihrer Mutter bleiben. Sie bräuchten das Versteckspiel nicht fortzuführen. Sie könnten dem Meeresteufel so einen Strich durch die Rechnung machen, allerdings würde sie dafür den Kontakt zu Jordan aufgeben müssen. Und zu jemand anderem, bei dem sie erst jetzt begriff, wie viel er ihr eigentlich bedeutete.
Und jetzt, wo sie ihre Mutter wiedergefunden hatte, begriff sie auch, warum sie sich nie hatte an ihn binden wollen, warum sie auf die lockere Schiene bestanden hatte. Sie wurde von starken Verlustängsten begleitet, ihr Leben lang, weil ihre Vergangenheit von Verlusten geprägt war.
„Ich würde gerne über Nacht bei dir bleiben, wenn es ok für dich ist. Morgen muss ich wieder zurück nach Isla Paradiso und versuche Jordan zu erreichen.“
Und bis dahin konnte sie überlegen, ob sie nicht Matthew aufsuchen sollte. Sie wollte versuchen sich ihm zu öffnen. Zumindest nahm sie sich das vor und hoffte, dass sie der Mut dazu morgen nicht wieder verlassen würde.
Maya strahlte über das ganze Gesicht, sie schien nicht zu bemerken, dass ihre Tochter mit ihren Gefühlen kämpfte und falls doch, ließ sie es sich nicht anmerken.
„Es gibt nichts, womit du mich glücklicher machen könntest.“
***
Donnerstag (Woche 10, Tag 5)
Als Schlafmütze hatte Latifa entgegen ihrer Pläne bis fast zum Mittag geschlafen. Allerdings hatte sie sich auch lange nicht mehr so geborgen gefühlt. Im Bett neben ihrer Mutter zu schlafen, hatte ihr einen sehr erholsamen Schlaf beschert.
Ihre Mutter stand an der Küchenzeile und hatte sich Zutaten zusammengelegt. Latifa kletterte vom Bett.
„Hast du gut geschlafen?“, erkundigte sich Maya. „Ich wollte dich nicht wecken, aber so langsam muss ich etwas essen. Magst du auch etwas Salat?“
„Ja, sehr gern sogar. Ich habe fantastisch geschlafen, so gut, wie lange nicht mehr.“
„Fein, es dauert nicht lang.“ Maya schnippelte die Zutaten auf dem Schneidebrett und erkundigte sich:
„Wie sieht dein Plan für heute aus?“
„Ich muss zurück nach Isla Paradiso. Ich muss schauen, dass ich Jordan erreiche. Auch wenn ich gerne hierbleiben würde. Aber das wäre nicht fair Jordan gegenüber. Ich muss leider gehen. Ich beeile mich und komm so schnell wieder, wie ich kann.“
Maya warf die zerkleinerten Zutaten in die Schüssel und vermischte alles.
„Verstehe. Latifa, ich freu mich, dass du hier bist, und habe es sehr genossen, dass du über Nacht bei mir geblieben bist. Ich hoffe, dass wir das bald wiederholen können.“
„Ja, das hoffe ich auch.“
„Schnapp dir einen Teller und lass uns draußen essen.“
Gemeinsam und mit vollen Salattellern bewaffnet setzten sie sich auf die Bank. Latifa stocherte nachdenklich in ihrem Essen.
„Ich verstehe nicht so ganz, warum es so problematisch ist, dass Meereswesen und Sims in Kontakt treten. Was spricht dagegen?“
„Der Meeresteufel!“, rief Maya in Erinnerung. „Aber warum genau, das kann ich dir nicht sagen.“
„Wäre es nicht eigentlich eine Bereicherung? Wir könnten voneinander lernen, miteinander leben, Neues entdecken. Ich frag mich, wie es ist eine Meerjungfrau zu sein? Hast du in solch einem Unterwasserschloss wie Arielle gelebt?“
Maya schüttelte schmunzelnd den Kopf. „Nein, so romantisch, wie du es dir vorstellst, ist es leider nicht. Die meisten leben in Unterwasserhöhlen und einige, vor allem die umherziehenden Meeresbewohner, leben in versunkenen Schiffswracks.“
Latifas Neugier war noch nicht gestillt und sie durchlöcherte ihre Mutter weiter mit Fragen.
„Wenn du es dir aussuchen könntest und es keine Einschränkungen geben würde, dass wir uns nicht sehen dürften: Welches Leben ist dir lieber? Das unter Wasser oder das an Land?“
Maya legte ihr Besteck beiseite und überlegte. „Ich muss gestehen, dass ich mir darüber nie Gedanken gemacht habe.“
Mit leuchtenden Augen erklärte ihre Tochter: „Ich glaube, ich wäre lieber eine Meerjungfrau. Zuhause in den Tiefen des Ozeans, keine Angst haben zu müssen, dass man keine Luft mehr bekommt, und mit der Schwanzflosse kannst du doch bestimmt 1000x besser schwimmen und tauchen als ich mit meinem Taucheranzug. Es gibt keine Tiefen und Orte, die man nicht erkunden kann, … und selbst an Land könnte man problemlos.“
Latifa kratzte schließlich die letzten Reste ihres Tellers und seufzte. „Ich muss los …“ Sie runzelte die Stirn. „Auch wenn mir der Kopf raucht vor Fragen, die ich dir gerne alle noch stellen würde. Ich beeile mich, Jordan muss unbedingt erfahren, dass du noch lebst. Es ist unglaublich. Er wird glauben, ich veräpple ihn. Ich hoffe, dass ich ihn erreiche und mitbringen kann, wenn ich das nächste Mal komme. Vielleicht schaffen wir es zum Wochenende.“ Dann erhob sie sich und ihre Mutter tat es ihr gleich.
„Das wäre schön. Latifa … ich habe die Zeit mit dir sehr genossen. Du hättest mir kein schöneres Geschenk machen können.“
„Ich komm so schnell ich kann wieder, versprochen!“ Latifa musste sich zusammenreißen, um nicht in Tränen auszubrechen. „Wir haben noch so viel Zeit, um alles nachzuholen.“
Maya presste die Lippen aufeinander und nickte. Sie strich ihrer Tochter über die Wange und rang sich ein Lächeln ab. „Ich freu mich drauf.“
Sie umarmten sich zum Abschied und konnten sich nur schwer voneinander lösen.
„Du musst los, mein Schatz. Geh, lass es nicht zu spät werden, du hast einen langen Rückweg vor dir.“
Ohne nochmal zurückzublicken, wollte Latifa hinab zum Strand. Sie hatte ein ungutes Gefühl, ihre Mutter jetzt schon wieder zu verlassen, aber es musste sein. Wie das Lösen eines Pflasters wollte sie nun schnellstmöglich verschwinden, um den Schmerz schnellstmöglich zu vergessen.
Überrascht stellte sie fest, dass ihr neues Schnellboot am Strand anlag. Ein Zettel am Steuerrad lüftete das Geheimnis.
„Craig, du bist ein Schatz!“, bemerkte Latifa und startete den Motor.
Nicht nur, dass er ihr Boot hierhergeschafft hatte, er hatte ihr außerdem eine Karte mit einem Hinweis dagelassen, wie sie am besten nach Isla Paradiso zurückfinden würde.
***
Erst als ihre Tochter nicht mehr in Sichtweite war, hatte Maya es gewagt, an den juckenden Schuppen ihrer Beine zu kratzen. Einige lösten sich und fielen zu Boden. Mit den Tagen, die an Land vergingen, verlor sie mehr und mehr ihrer Meerjungfrauen-Schuppen.
Besorgt blickte sie auf die Schuppen im Sand.
Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich auch die letzten lösen würden. Maya hoffte sehr, dass das nicht allzu bald passieren würde.
Jetzt, wo Latifa sie gefunden hatte, hoffte sie sehr, dass sie ihre Kinder vorher noch einmal zu Gesicht bekam.
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