Mittwoch (Woche 8, Tag 4) - Mittwoch (Woche 10, Tag 4)
„Hi, Craig! Darf ich dich um einen Gefallen bitten?“
„Klaro, Lati, meine Haibezwingerin. Wie kann ich dir helfen?“
„Ich brauche ein Boot!“
„Ich habe ein Boot!“
„Ich weiß, deswegen frag ich ja. Darf ich mir das ausborgen?“
„Das war ein ‚Ja‘, Lati.“
***
Donnerstag (Woche 8.Tag 5)
Auch wenn sie es ihrem Bruder versprochen hatte, hielt sich Latifa nicht an dieses Versprechen und schipperte, mit dem geliehenen Boot von Craig, allein zum Perlengrund.
Latifa hätte nicht erklären können, warum sie das tat. Aber ein undefinierbares Gefühl sagte ihr, dass ihr nichts passieren würde. Beim letzten Mal hatte sie einen Schutzengel gehabt und Latifa war sich sicher, dass dieser auch diesmal über sie wachen würde.
Nachdem sie ihre Tauchkluft angelegt, ins Wasser gesprungen und abgestiegen war, umgab sie ein wohliges Gefühl.
Wer oder was auch immer du bist, ich weiß, dass du da bist, dachte sie. Danke, dass du auf mich aufpasst.
Latifa schwamm planlos hin und her. Sie wusste nicht, wo sie beginnen sollte, und war sich nicht sicher, welche Bereiche sie bereits erkundet hatte. Letztlich ließ sich nochmal zur Truhe treiben. Zur Truhe, die sie beim letzten Mal nicht aufbekommen hatte.
Sie versuchte es erneut. Sie griff mit den Fingern unter den Deckel und versuchte diesen anzuheben. Erfolglos.
Ihre Fähigkeiten reichten dafür nicht aus. Sie würde es beim nächsten Mal wieder versuchen müssen. So blieb ihr nichts anderes übrig, als erst einmal die Umgebung des Perlengrundes genauer zu erkunden. So, wie es ohnehin ihr Plan gewesen war.
Sie folgte dem Pfad aus Riesenmuscheln, erntete Seetang vom Meeresboden und beobachtete Fischschwärme bei ihren Kunststücken. Hier und da sammelte sie Muscheln vom Boden auf. Keine nennenswerten Kostbarkeiten, aber es war ein schöner Zeitvertreib.
Bis sie in der Ferne etwas im Sand aufblitzen sah. Geschwind schwamm sie in die Richtung, in der sie es wahrgenommen hatte.
Als sie näherkam, traute sie ihren Augen nicht. Blaue Augen am Meeresgrund. War das tatsächlich möglich?
Latifa streckte die Hand nach der Muschel aus. Tatsächlich ... es war eine extrem seltene Venusmuschel. So eine hatte sie noch nie in Natura zu Gesicht bekommen. Sie kannte diese Muschelart bisher nur aus Büchern und Erzählungen. Und als wäre das nicht genug, konnte sie von dieser Stelle aus eine weitere Unterwassertruhe ausmachen.
Sie schwamm weiter den Muschelpfad entlang, bis sie zur Truhe gelangte. Ohne großartige Erwartungen. Im Gegensatz zur Truhe Nähe der Ruinen, ließ sich diese mit einem kräftigen Ruck öffnen.
Unter anderem fand Latifa ein seltenes Urzeit-Fossil darin. Eine hervorragende Ausbeute war das. Der Tauchgang hatte sich gelohnt, trotzdem sie die erste Truhe nicht aufbekommen hatte.
So langsam machte sich ihr Magen und auch eine gewisse Müdigkeit bemerkbar. Latifa entschloss sich daher den Tauchgang für heute zu beenden. Für die nächsten Tage hatte sie geplant alle Ecken des Perlengrundes und die Unterwasser-Höhle zu erkunden. Sie konnte sich nicht daran erinnern ob und was sie beim letzten Mal darin entdeckt haben mochte. Das letzte Mal, bevor sie plötzlich auf dem Hausboot aufgewacht war.
Außerdem wollte sie schauen, dass sie die Unterwassertruhe aufbekam. Sie würde schon einen Weg finden, da war sich Latifa sicher.
Nachdem sie wieder aufgetaucht war, entschloss sie sich zur Tropenoase zu schippern und dort für die folgenden Nächte einzuchecken.
Das Resort am funkelnden Sandstrand dürfte zwar komfortabler sein, allerdings mochte Latifa das Personal dort nicht. Es war bereits eine Tortur gewesen einzuchecken, weil die Empfangsmitarbeiter es offenbar nicht für nötig erachtet hatten, den Empfang zu bedienen.
Außerdem hatte sie Isidro, dem Rezeptionisten der Tropenoase, versprochen, ihm etwas mitzubringen, wenn sie es, mithilfe seines Hinweises zur Insel der Zuflucht geschafft hätte. Sie freute sich auf das Wiedersehen.
Auch wenn die Tropenoase etwas weiter entfernt vom Perlengrund lag, wodurch sie täglich etwas Zeit zum Tauchen opfern müsste. Aber das war ihr egal. Auf die ein zwei Stunden am Tag, kam es nicht an, wenn sie dafür entspannter an ihre Tauchgänge herangehen konnte.
***
Isidro hielt in der Bewegung inne, als er eine ihm bekannte Person im Augenwinkel wahrnahm.
„Ist das denn die Möglichkeit?“ Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.
Latifa war froh, dass auch wirklich er am Empfang stand. Sie war zwar hundemüde, aber sie wollte es sich nicht nehmen lassen, ihm vorm Schlafengehen alles zu erzählen, was es zu erzählen gab.
„Hallo Isidro! Wie schön dich zu sehen“, begrüßte Latifa den Rezeptionisten.
Isidro sicherte sich ab, dass niemand sonst in der Empfangshalle war, bevor er sich erkundigte: „Hast du es geschafft? Hast du die Insel gefunden?“
Latifa erzählte Isidro die ganze Geschichte in Kurzfassung. Von der ersten Begegnung mit Craig, dem Seetang-Farmen, der Feuerprobe, dem Haikampf und letztlich, wie sie die Insel erreicht hatten.
Nachdem sie Isidro all seine neugierigen Fragen beantwortet hatte und sie drauf und dran war im Stehen einzuschlafen, checkte sie für vier Nächte ein, schlurfte zu ihrem Zimmer und fiel in der Sekunde, in der ihr Kopf das Kissen berührte, sogleich in einen traumarmen, erholsamen Schlaf.
***
Die folgenden Tage sollten für Latifa ähnlich ablaufen. Sie stand morgens auf, schlug sich den Bauch voll, packte Proviant für den Tag ein und schipperte los zum Perlengrund. Sie tauchte hinab, erkundete die Gegend um die Höhle, versuchte sich täglich erfolglos an der Truhe mit den verschiedensten Werkzeugen und baute ihre Tauchfähigkeiten weiter aus.
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