“Was tu ich hier eigentlich?”, dachte Latifa, während sie immer weiter in die Tiefen abtauchte. “Worauf habe ich mich bloß eingelassen. Einen Hai verprügeln? Fragt sich, wer Wahnsinniger ist ... Craig und seine komischen Freunde vom wissenschaftlichen Institut oder ich?”
Allerdings musste Latifa zugeben, dass ihr die vorangegangene Feuerprobe einen gewaltigen Boost für ihr Selbstvertrauen gegeben hatte. Sie fühlte sich tatsächlich im Stande es mit einem Hai aufzunehmen. Craig hatte es geschafft, sie so weit zu bringen, dass sie selbst ihre Grenzen austesten und wissen wollte, wie stark sie eigentlich war.
Der Hai sah direkt in ihre Richtung, als sie unten ankam.
Jetzt bloß nicht in Panik geraten, dachte sich Latifa. ruhig bleiben und nicht aus den Augen lassen. Ich warte, bis er angreift und dann nutze ich den Moment.
Der Hai schwamm einige Runden um sie herum. Argwöhnisch, auf der Lauer und angriffslustig.
Plötzlich schnappte er zu. Aber Latifa konnte rechtzeitig ausweichen, sodass der Angriff ins Leere ging. Latifa und der Hai tanzten unter Wasser umeinander herum.
Beim dritten Angriffsversuch des Hais ging die geduldige Taucherin nach ihrem Ausweichmanöver schließlich selbst zum Angriff über.
Bei den vorherigen Angriffen hatte sie die Bewegungsabläufe studiert und sich nun bereit gefühlt selbst vorzustoßen.
Mit ihrer Handkante drosch sie mit einem gezielten Schlag auf die Nase. Der Hai sank paar Meter hinab, schüttelte den Kopf und blickte verunsichert zu seinem Angreifer hinauf. Nach einem Blick in die funkelnden Augen seines Gegenübers ergriff er die Flucht.
Latifa spürte das Adrenalin in den Knochen. Sie hatte triumphiert und fühlte sich so voller Energie, wie noch nie zuvor in ihrem Leben.
***
Woche 7, Tag 7 - Samstag
Auf dem Weg zum Rathaus berichtete Latifa ihrem Bruder detailliert, was sie am Tag zuvor alles erlebt hatte. Er konnte nicht fassen, was er zu hören bekam und war unschlüssig, welche Gefühle in seinem Innersten überwogen.
Neid, Stolz oder Bedauern. Alles was bei ihm nicht funktionierte, schien seiner Schwester ganz einfach in den Schoß zu fallen. Er hätte es sein sollen, der die Infos zur Insel zusammenträgt, nicht sie. Sie sollte ihn eigentlich nur begleiten. Aber ändern konnte er an den Ereignissen nun einmal nichts, also musste er sich damit abfinden, dass er nur dank seiner Schwester so weit gekommen war.
Am Rathaus wartete bereits Craig auf sie. Lächelnd nahm er sie in Empfang. “Du bist einfach fantastisch, Lati! Der helle Wahnsinn!”
Bei diesen Worten fühlte Latifa, wie ihre Wangen brannten. Die Worte schmeichelten ihr und sie hoffte, dass sie deshalb nicht zu rot wurde.
“Warum wolltest du mich ausgerechnet hier treffen?”, fragte sie. Craig kramte etwas aus seinen Taschen. Es war ein Briefumschlag, den er ihr in die Hände drückte.
“Hier, das ist eine Erlaubnis, um die alten Karten einsehen zu dürfen. Die Insel der Zuflucht ist leicht zu finden. Im Rathaus gibt es eine alte Karte, auf der sie eingezeichnet ist. Suche in der Abteilung für zerbröseltes Kartenmaterial.“
„Aber wo sie ist, das wissen wir doch schon, wir wissen nur nicht, wie wir die Nebelwand durchdringen können“, warf Jordan ein.
„Dafür solltest du einen Blick auf die Karte werfen. Wenn ihr es damit nicht schafft zur Insel zu gelangen, kann ich euch auch nicht mehr helfen.“
Zum Abschied drückte Craig Latifa fest an sich, nickte ihrem Bruder zu und winkte sich ein Taxi herbei.
Nachdem er fort war, öffnete Latifa aufgeregt den Umschlag, sah sich die Erlaubnis an, zeigte sie ihrem Bruder und dann stiegen sie gemeinsam die Treppe zum Eingang des Gemeindezentrums hinauf.
„Ich bin echt gespannt, ob wir dank dir jetzt tatsächlich das Rätsel knacken, wie wir zur Insel kommen“, überlegte Jordan und hielt seiner Schwester die Tür auf.
***
Sie brauchten etwa eine Stunde, um zu finden, was sie suchten und warteten anschließend auf ein Taxi für den Heimweg.
„Hey, Lati!“, hörte Latifa eine nur allzu bekannte Stimme hinter sich. Sie zuckte zusammen und drehte sich langsam herum.
„Matthew ... hi ...“ Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
„Ich lasse euch zwei allein“, sagte Jordan, nach einem kurzen Blickwechsel mit Matthew. „Wir treffen uns zuhause, Lati. Ich bereite alles für die Abfahrt vor, bis später.“
Als ihr Bruder sich entfernt hatte, fragte Latifa zögerlich: „Wie ... wie geht’s dir?“
Ein Achselzucken. Matthew erklärte: „Wie soll es mir schon gehen. Ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Wo hast du die ganze Zeit gesteckt?“
„Ich bin dabei meinen Bruder zu helfen. Wir suchen nach dem Paradies im Ozean, das ist wichtig für ihn.“
„Das ist mir egal, ich dachte das mit uns ist nicht nur mir wichtig.“ Matthews Stirn lag in Falten. „Du hättest dich wenigstens einmal melden können. Mehr verlange ich doch gar nicht.“
„Ich wollte nie eine Beziehung, das weißt du. Das was wir haben ...“
Matthew fiel ihr ins Wort: „Ja, ich weiß. Du wirst nicht müde das jedes Mal aufs Neue zu betonen, wenn wir auf das Thema kommen.“ Matthew seufzte. „Geht es dir denn wenigstens gut?“
Latifa nickte.
„Schön.“
Sie schwiegen. Es war eine bedrückende Stille. Am liebsten hätte sich Latifa einfach von hier weg teleportiert, um der Situation zu entfliehen.
„Können wir nicht einfach Freunde sein?“, fragte sie nach einigen endlos erscheinenden Sekunden.
„Freunde ...“, wiederholte Matthew. Seine Lippen zuckten leicht. „Wenn das das Beste ist, was ich von dir kriegen kann ...“
Erneutes Schweigen.
„Ich muss jetzt los! Mach’s gut, Lati.“ Matthew wandte sich ab und schlurfte Richtung Stadtbibliothek davon. Latifa biss sich auf die Lippen. Dahin war ihre gute Laune durch die Ereignisse des Vortags. Matthew hatte sie in dem ganzen Trubel vergessen.
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