„Ich weiß, dass das mit der Meerjungfrau verrückt klingt, aber eine andere Erklärung habe ich nicht.“
„Wer sagt denn, dass das verrückt klingt? Im Gegensatz zu deinem Bruder verschließt du nicht die Augen vor dem offensichtlichen. Genau das ist auch der Grund, warum du schaffen wirst, was er niemals tun wird. Dein Bruder ist so verblendet, dass er gar nichts rafft. Sorry Lati, dein Bruder ist ein Vollhonk.“
„Hör auf so von Jordan zu sprechen!“
„Man muss eine Wahrheit verkraften können. Der sieht den Ozean vor lauter Wasser nicht.“ Bevor Latifa etwas sagen konnte, hob er beschwichtigend die Hände. „Mehr sage ich dazu nicht. Es ist raus, was raus musste. Also weiter im Programm. Wo waren wir? Meerjungfrauen ... ah ja.“
Er musterte Latifa für einen Moment und stellte schließlich fest:
„Du bist deiner Mutter sehr ähnlich.“
Latifa traute ihren Ohren nicht. „Meine Mutter? Woher ... Du hast sie gekannt?“
Craigs Lippenwinkel zogen sich nach oben. Ein warmes Lächeln zierte sein Gesicht.
„Nicht „habe gekannt“, ich kenne deine Mutter.“
Tausend Gedanken schwirrten in Latifas Kopf herum. Woher kannte Craig seine Mutter und wie kam er auf die absurde Idee, dass sie noch am Leben sein könnte? Hatte ihr Vater abermals gelogen?
„Nein, das kann ich nicht glauben. Unser Vater hat uns erzählt, dass sie vom Ozean verschlungen wurde. Wieso hätte er lügen sollen?“
Wobei er deshalb schonmal gelogen hat, fiel Latifa ein, als sie es ausgesprochen hatte. Vielleicht hatte er ihnen noch mehr verschwiegen. Ein Stich bohrte sich durch ihr Herz. Die junge Frau wollte nicht die Meinung über ihren Vater überdenken müssen.
„Das habe ich auch nicht behauptet. Das stimmt, das ist ja kein Geheimnis. Zumindest für die, die wissen was damals passiert ist. Aber was kaum einer weiß ist, dass sie eine zweite Chance erhalten hat, allerdings in einer etwas anderen Form. Und dass dein Vater davon nichts wusste, liegt daran, dass er genauso ein Idiot war wie dein Bruder.“
„Aber wie passt das alles zusammen? Warum hat sie nicht nach uns gesucht, wenn sie noch lebt. Sind wir ihr so egal?“
Craig schüttelte den Kopf. „Nein, eher das Gegenteil. Such nach ihr und finde es heraus, Lati. Ich kann und werde dir deine weiteren Fragen nicht beantworten.“
„Aber ...“
Latifa war verunsichert. Sie wusste zwar, dass Craig älter sein musste, als sie selbst, aber wenn er über die Geschehnisse, die mit dem Tod ihrer Mutter zusammenhingen Bescheid wusste, musste er sie schon seit über zwanzig Jahren kennen.
„Warum weißt du eigentlich so gut darüber Bescheid? Ich hätte dich nicht unwesentlich älter als mich geschätzt.“
Craig schwieg und sah sie verschmitzt an. „Es gibt Sachen, Lati, die sollten ein Geheimnis bleiben.“
„Du kannst mich doch nicht hier mit solch halbgarem Wissen stehen lassen.“
„Das tu ich auch nicht. Ich schick dich wieder zum Perlengrund, aber diesmal besser ausgerüstet. In der mittleren Schublade der Kommode findest du einen Tauchanzug. Trage ihn beim nächsten Mal, dann sollten dir die Gefahren der Höhle nichts anhaben können. Der Anzug ist aus einem besonderen Material, damit habe ich es vor langer Zeit auch geschafft. Sobald du es geschafft hast, sollte es nicht mehr lange dauern, bis du deine Mutter wiedersiehst. Also los, Lati. Verlier nicht unnötig weiter Zeit. Nimm den Anzug und erkunde die Höhle, finde den richtigen Ausgang. Vergiss deine Ängste, du hast deine Beschützer um dich, du bist würdig. Sonst wärst du nicht bereits zum zweiten Mal gerettet worden.“
„Aber ... wenn sie mich gerettet haben sollte, warum hat sie sich mir dann nicht gezeigt?“, überlegte Latifa.
Craig zuckte mit den Achseln. „Frag sie, sobald du sie gefunden hast.“
„Ich weiß nicht, ob ich das allein schaffe. Kannst du mich nicht begleiten?“
Craig seufzte. Er nahm ihre rechte Hand in seine und drückte sie sanft. Sie war warm und rau. Latifa durchströmte ein angenehmes Gefühl.
Er sagte nicht sofort etwas und Latifa genoss die Nähe, für einen Moment war sie abgelenkt von den ganzen neuen Eindrücken der letzten paar Minuten.
„Nein, Lati. Das ist etwas, das du allein schaffen musst. Ich würde dich nur ablenken, außerdem bin ich bei Weitem nicht solch ein guter Taucher wie du.“
„Aber du hast doch eben gesagt ...“
„Papperlapapp, nix habe ich.“ Craig drehte sich weg von ihr und ging aufs Bett zu. „Ich bin müde, schnapp dir den Anzug und geh, Lati! Los!“
Das war unmissverständlich. Die Unterhaltung war für Craig beendet, er würde ihr nicht mehr weiterhelfen. Latifa tat wie ihr geheißen, kramte den beigefarbenen Anzug aus der Schublade und stieg über die zahlreichen Treppen des Anwesens hinab.
Ihr schwirrte der Kopf, sie versuchte die Gedanken zu sortieren, doch es waren einfach zu viele neue unglaubliche Informationen, die sie erhalten hatte.
Sie musste diese unbedingt mit Jordan teilen.
Ihre Hände zitterten vor Aufregung, als sie seine Nummer wählte.
Die gewählte Nummer ist derzeit nicht erreichbar. Bitte versuchen Sie es zu einem späteren Zeitpunkt erneut. Biep, Biep, Biep!“
Verdammter Mist!, dachte Latifa. Und jetzt?
Die junge Frau überlegte einen kurzen Moment Matthew anzurufen, besann sich dann aber doch eines Besseren und verwarf die Idee wieder. Auch zu ihren anderen ehemaligen Exkollegen vom Stadion wollte sie keinen Kontakt aufnehmen. Sie glaubte nicht, dass irgendwer sie in dieser Geschichte verstehen würde, außer Craig oder ihr Bruder. Der eine hatte sie eben rausgeschmissen und der andere war nicht erreichbar.
„Es hilft ja alles nichts ...“, stellte Latifa fest. „Auf zum Perlengrund.“
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