Woche 9, Tag 3 (Mittwoch) - Woche 9, Tag 5 (Freitag)
Es war so weit, Latifa hatte fleißig ihre Tauchfertigkeiten ausgebaut und perfektioniert. Dabei hatte sie auch einige kleinere Tauchaufträge abgeschlossen. Alles rund um den Perlengrund hatte sie entdeckt, Muscheln gesammelt und seltene Meerestiere gefangen.
Bevor sie nun einen weiteren Versuch wagen wollte, die Unterwasserhöhle erneut zu erkunden, schwamm sie ein letztes Mal hinüber zur bisher unbezwingbaren Truhe.
Sollte es ihr nicht möglich sein die Truhe mit ihren neu erworbenen Fähigkeiten zu öffnen, würde sie sich damit abfinden, dass die Truhe für sie für alle Ewigkeit verschlossen bleiben würde.
Ohne große Erwartung aklemmte sie ihre Finger unter den Truhendeckel und versuchte ihn hochzureißen.
Latifa spürte, wie der Widerstand schwächer wurde. Angetrieben durch diesen unerwarteten Umstand, steckte sie all ihre Kraft in das Vorhaben.
Ein kleiner Spalt machte sich bemerkbar. Latifa mobilisierte alle Kräfte ihres Körpers.
Mit einem letzten kräftigen Ruck sprang der Truhendeckel auf. Endlich! Latifa konnte es nicht fassen. Sie hatte es tatsächlich geschafft.
Belohnt wurde die ehrgeizige Taucherin mit zahlreichen Edelsteinen, einem großen Plutonium-Barren und einem grinsenden Gartenzwerg. Latifa nahm alles an sich und tauchte wieder auf, um zur Tropenoase zurückzusegeln und die Sachen auf ihrem Zimmer zu verstauen. Außerdem wollte sie vor der Erkundung der Höhle ein letztes Mal Kraft tanken. Morgen wäre es schließlich so weit.
Auch wenn Latifa nicht sicher war, ob das der einzige Grund war, weshalb sie dieses Abenteuer die ganze Zeit vor sich herschob. Sie musste sich eingestehen, dass sich nach dem Blackout beim letzten Versuch ein gewisser Respekt aufgebaut hatte, der sie nicht unwesentlich in ihrer Entscheidung beeinflusst hatte.
***
Woche 9, Tag 4 (Donnerstag)
Sie spürte das Pochen ihres Herzens im ganzen Körper. Es wurde heftiger, je näher sie der Unterwasserhöhle kam.
Eine Mischung aus Angst und unbändiger Neugier durchströmte sie.
Ich spüre, dass du da bist. Magst du dich nicht auch zeigen?, dachte Latifa. Bei jedem Tauchgang der letzten Tage hatte sie das Gefühl beobachtet zu werden. Allerdings hatte sie niemanden gesehen.
Latifa seufzte und versuchte sich auf ihr Vorhaben zu konzentrieren.
Blubberblasen traten aus der Höhle. Wartest du vielleicht dort drinnen auf mich?
Latifa ignorierte die aufgeregten Schmetterlinge im Bauch, traute sich und tauchte ein in das tiefe Schwarz.
Normalerweise konnte die erfahrene Taucherin sich in den Höhlensystemen zumindest orientieren, nachdem ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Aber hier half noch nicht einmal ihre Unterwasserlampe, die sie immer dabeihatte.
Stattdessen schnappte sie plötzlich nach Luft. Sie sah nichts, war verschlungen von der Dunkelheit und drohte nicht mehr Herr ihrer Sinne zu bleiben. Sie spürte, wie sie die Kontrolle über ihren Körper verlor und sich alles um sie herum zu drehen begann. Ein Strudel sog sie mit sich. Latifa versuchte dagegen anzuschwimmen, aber sie hatte keine Chance und wurde immer tiefer gerissen.
War’s das jetzt?
***
Blubbernde Geräusche, dann konnte Latifa plötzlich wieder etwas sehen.
Der Meeresboden erstreckte sich unter ihr.
Als hätte jemand Bleigewichte um sie geschnallt, sank sie wie ein nasser Sack hinab und wurde in den Boden gedrückt. Ihre Körper fühlte sich mit jeder Sekunde schwerer an, sie konnte sich nicht rühren.
Latifa kämpfte dagegen an ihr Bewusstsein zu verlieren, doch die Augen fielen ihr wieder und wieder zu.
Für die Dauer eines Wimpernschlags schaffte sie es, sich ein letztes Mal dagegen zu wehren.
Dann wurde sie von Dunkelheit übermannt.
***
Laaalalalalalaaaaaaaa
Ein kontinuierliches Rauschen drängte sich in Latifas Bewusstsein. Sie spürte etwas Weiches unter sich. Mit ihrer linken Hand ertastete sie etwas Körniges.
Sand ... sie lag auf Sand. Sie nahm etwas davon zwischen die Finger und ließ es wieder auf den Boden rieseln.
„Danke“, flüsterte Latifa. „Danke“, wiederholte sie nach einigen Sekunden, in denen sie demütig liegen geblieben war.
Sie atmete einmal tief durch und öffnete die Augen. Der Mond stand in seiner vollen Pracht am Himmel und erleuchtete die Meeresdecke. Vereinzelt funkelten Sterne am Himmel. Es war Nacht.
Latifa stand auf und drehte sich herum.
„Wo bin ich hier?“
Wo sie war und wie spät es war, vermochte Latifa nicht zu sagen. Aber was sie dafür umso deutlicher spürte, war ihr grummelnder Magen und ein dröhnender Kopf.
Außerdem sah sie vor sich einen Berg, mit einem Wasserfall, der für das laute Rauschen verantwortlich war.
Sie kannte den Ort nicht, konnte aber hinter dem Berg einen Antennenmast ausmachen. Wenn sie nicht alles täuschte, war das der Mast vom wissenschaftlichen Labor.
Laaaalalaaaalalaaaaaaa
Glücklicherweise fand Latifa in der Nähe Craigs Segelboot. Sie wusste, dass sie dort noch etwas zum Snacken verstaut hatte.
Im derzeitigen Zustand blieb ihr keine Zeit, sich um die vorangegangenen Geschehnisse Gedanken zu machen. Erst musste sie ihre physischen Bedürfnisse nach Hunger und Schlaf befriedigen.
Deshalb zog sie den Taucheranzug aus, schlang das Obst hinunter, schob das Boot ins Wasser und setzte die Segel.
Latifa steuerte in Richtung des Mastes, damit sie ihren Verdacht überprüfen konnte. Sollte sich an der Stelle tatsächlich das wissenschaftliche Institut befinden, wüsste sie, wie sie zur Tropenoase gelangen konnte.
***
Laaaaalalalalalalaaaaaaaa
Latifa blickte auf die Weiten des Ozeans hinaus. Erst jetzt bemerkte sie den Singsang, der vom Wasser zu ihr hingetrieben wurde.
Laaaalalalaaaaaaaalaa
Latifa lauschte. Sie bildete sich ein, ihren Namen in dem Singsang zu hören.
Laaalalaaaaaaalalalaa.. Laaaaatifaaaaa Laaaalalalaaaaaaa
Als sie genauer hinhörte, war sie sich sogar sehr sicher, dass auch ihr Name immer wieder mal gerufen wurde. Aber was war das für ein Singsang?
„Hallo! Hier bin ich ... was willst du von mir?“
Laaaaalalalaaaaaaalalalalaaaa ... Laaaaaaaatifaaaaaa ... Laaaaalalalaaaaaa
„Ja! Ich bin hier! Was soll ich tun? Wie kann ich dich erreichen?“
Laaaaaaalaalalaaaaaaaaa ...
Latifa war ratlos, was sie tun sollte. Sie lauschte noch eine Weile, während sie auf dem Boot vor sich hinschaukelte.
Minute um Minute verging und der Mond wanderte hinab, um sich von der aufsteigenden Sonne ablösen zu lassen. Umso tiefer der Mond wanderte, umso leiser wurde der Singsang, der die ganze Zeit angedauert hatte.
Irgendwann war dieser nicht mehr zu hören. Dafür erwachten die ersten Vögel und zwitscherten im Morgengrauen. Latifa hatte keine Kraft, um weiter darüber nachzusinnen. Ihre Augen drohten ihr zuzufallen, während sie das Segelboot todmüde in Richtung Tropenoase lenkte.
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