Meine erste Reise! Ich bin total aufgeregt – und auch ein bisschen nervös. Na ja, okay, ich will ehrlich sein. Eigentlich habe ich ziemlichen Muffensausen. Diese große Welt ist mir noch nicht ganz geheuer. Es ist alles so viel größer als unser Garten. Und es gibt so viel zu sehen. Ein bisschen zu viel für meinen Geschmack.Gott sei Dank hat Mama mich auf dem Arm und in ihren Haaren kann ich mich super verstecken.
„Liebling, lass die Jacke bitte an“, ermahnt Mama meinen Bruder, der wohl schon wieder an seiner Jacke gezupft hat.
„Nein!!! Heiiiiß“, quengelt Dylan. Dylan kann, anders als ich, schon sprechen.
Na ja, es hört sich noch ein wenig holprig an, wenn ich ehrlich bin. Und er kann nur ein paar Worte sagen. Seine Lieblingsworte sind „Hunger“, „Auto“, „Spielen“ und „Nein“. Vor allem Letzteres sagt er fast ständig. Kein Vergleich zu dem Wortschwall den Mama und Papa am Tag so von sich geben.
„So, Hase. Ich setz dich jetzt kurz ab. Immer schön an meiner Hand bleiben. Wir müssen nur noch schnell Tickets kaufen.“
Okay, auch wenn ich von dem Gequatsche nicht so überzeugt bin, muss ich zugeben, dass es dochauch Vorteile hat. Denn wenn ich schon sprechen würde, könnte ich Mama mitteilen, dass ich lieber aufden Arm bleiben möchte. Und dass ich nicht Hase heiße, sondern Sienna. Komisch! Eigentlich müsstesie ja wissen, wie ich heiße.Andererseits weiß ich nicht, ob man wieder aufhören darf zu sprechen, wenn man einmal damit angefangenhat. Was, wenn ich es ausprobiere und es mir nicht gefällt?
„Schön, sitzen bleiben! Dylan, setz dich auch!“Der Nachteil, wenn man einmal mit dem Sprechen angefangen hat, ist nämlich, dass Mama und Papadann ständig sagen, was man machen oder lassen soll. Zumindest kann ich das an Dylan beobachten.Seit er angefangen hat, zu sprechen, hören Mama und Papa kaum mehr auf, auf ihn einzuquasseln.
Peeep! Peep! Peeeeeep!
Bevor ich nachschauen kann, woher dieses Geräusch kommt und was es wohl bedeutet, fängt die Weltdort draußen plötzlich an, sich in Bewegung zu setzen und ich kann spüren, wie mich etwas in den Sitz drückt. Was passiert denn jetzt. Hey, darauf war ich noch nicht vorbereitet!
„Wir fahren jetzt los“, erklärt Mama und so wie sie das sagt, muss es etwas Gutes sein. Sie klingt zumindestganz erfreut. Allerdings könnte das auch ihre „Ich-tu-nur-so“-Stimme sein und in Wahrheit ist es doch nichts Gutes. So wie die blöden Erbsen. Mama sagt mir auch immer mit dieser fröhlichen Stimme, dass ich den Mund ganz weit aufmachen soll, nur um mir im nächsten Moment einen Löffel dieser ekeligen, grünen Dinger in den Mund zu schieben.
„Schaut mal, ist das nicht schön“ Sie zeigt auf das Fenster und unsere Heimat zieht plötzlich an uns vorbei.Ob wir auch an unserem Haus vorbei fahren? Und werden wir wieder zurückkommen? Was Papa wohl denkt,wenn er nach Hause kommt und keiner ist da? Und was werden aus meinen Spielsachen, wenn ich nicht wieder zurückkomme, um mit ihnen zu spielen?
„Wir besuchen heute eine Freundin von mir“, plappert Mama munter vor sich hin und lenkt mich so vonden traurigen Gedanken ab, die sich ganz plötzlich in meinen Kopf geschlichen haben.
„Die habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Und sie hat eine kleine Tochter. Ihr werdet euch sicher verstehen und ihr könnt heute Nachmittag schön miteinander spielen ...“
Ich höre Mama jedoch nur halb zu. Ich bin so fasziniert davon, wie sich die Aussicht aus dem Fensterständig ändert. Die ganze Welt scheint an diesem Fenster förmlich vorbei zu fliegen. Erst sind ganz viele Häuser zu sehen, und dann auf einmal Container. Ja sogar große Schiffe! Immer schneller und schneller rauscht Evergreen Harbor am Fenster vorbei bis alles nur noch ein buntes Allerlei ist.
„Sienna, nein! Pass auf, dass du nicht hinfällst! Setz dich wieder hin.“
Nein, das kann ich auf keinen Fall tun!
Ich muss runter hier. Und zwar sofort! Ich habe entschieden, dass Zugfahren doof ist. Mein Magen sagt mir jedenfalls, dass er diesen Zug, das ganze Geschaukel und Gewackel nicht mag. Ich kann spüren,wie es in meinem Bauch blubbert. Vermutlich werde ich gleich die Pfannkuchen wiedersehen, die Papa heute Morgen gemacht hat und die mir super geschmeckt haben. Aber allein der Gedanke an Pfannkuchen reicht aus, um das Geblubber in meinem Bauch noch schlimmer zu machen.
„Oh je! Du bist ja ganz weiß um die Nase! Bekommt dir das Zugfahren nicht? Gott sei Dank ist es nichtweit. Gleich müssten wir schon da sein“, summt Mama während sie mich von meinen klapprigen Beinen, die noch nicht ganz so standfest sind, erlöst und mich wieder auf den Arm nimmt. Diese Stimme mag ich. Das ist Mamas „Alles-wird-gut“-Summ-Stimme. Immer wenn sie in diesem summenden Singsang spricht, fühlt sich die Welt auf einmal ganz anders an. So wohlig warm und ruhig.
„Schau, wir fahren schon über die Rote Brücke! Ja, so schnell geht das und gleich sind wir auch schon da und steigen aus. Dann haben wir wieder festen Boden unter den Füßen. Na? Das ist doch was,oder?“, summt Mama weiter und ich kann nicht anders als ihr ganz gebannt ins Gesicht zu schauen.
Plötzlich jedoch verschwindet ihre sanfte Summ-Stimme.
„Bitte kotz nur nicht. Das hätte mir gerade nochgefehlt. Ich hab ausnahmsweise keine Wechselkleidung dabei“, stöhnt Mama nun genervt.
Als wäre das Wort „kotzen“ der Startschuss spüre ich, wie mein Blubberbauch einen kleinen Purzelbaumschlägt und ein säuerlich, wiederlicher Brei meinen Hals entlang hochschießt.
„Nein!“, kreischt Mama mit weit geöffneten Augen. Wie auf’s Stichwort gibt es einen mächtigen Ruck und der schaukelnde Zug kommt quietschend zum Stehen.
„Nein, nein, nein, nein, nein! Bitte nicht!“, fleht Mama und hält mich mit ausgestreckten Armen so weitwie nur möglich von sich weg. Meine Beine baumeln nun frei in der Luft. Aber das hält meinen Blubberbauch leider auch nicht auf.
Na ja, was soll ich noch groß sagen. Es passiert, was passieren muss. Als könnte ich mein störrisches Frühstück einfach auf Mamas Kommando davon abhalten, wieder rückwärts aus mir heraus zu schießen. So funktioniert das einfach nicht. Ich erspar euch mal die dreckigen Einzelheiten.
Aber das beweist jedenfalls, wie sinnlos dieses Gequassel eigentlich ist.
Nun, was soll ich dazu noch groß sagen. Meine erste Zugfahrt war eine Katastrophe und so schnell möchte ich dieses Erlebnis definitiv nicht mehr wiederholen. Und ich hoffe Mama sieht das genauso.
Erwachsene scheinen nämlich ganz schön dickköpfig zu sein. Ständig machen sie Dinge, die keinen Spaß machen oder verlangen Sachen, die einfach sinnlos sind. Und lernen sie daraus? Nun, die Antwort darauf ist Nein. Denn sonst würde Mama mich nicht immer noch überreden wollen, dieses blöde Töpfchen-Dings zu benutzen.
Aber da ich Mama nun von oben bis unten eingekleistert habe, hoffe ich, sie hat dieses Mal daraus gelernt.
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