
"Und wer oder was ist Typhon?", fragte Thornton gespannt.
"Ich sage es Ihnen. Aber nur unter der Bedingung, dass Sie keine weiteren Fragen stellen. Wir werden den Leuchtturm verlassen und zwar auf der Stelle. Deal?"
Ich hielt meine Hand hin und Thornton schlug ein.
"Deal."
Dann holte ich noch einmal tief Luft, ehe ich ansetzte: "Ihnen ist wahrscheinlich längst klar, dass es sich bei dieser ominösen Taucherglocke nicht um eine Glocke im engeren Sinne handelt. Um Ihre Funktionalität auch Unterwasser zu gewährleisten, musste man sich in ihrer Konstruktion, sagen wir einfach mal, ein paar erfinderische Freiheiten lassen.“
Thorntons Augenbrauen verengten sich zu einer schmalen Linie.
„Jetzt, da Sie es erwähnen, dieser sogenannte Sirenengesang klang nicht gerade wie klassisches Glockengeläut.“
"Nichts in dieser Stadt ist klassisch, mit Ausnahme vielleicht ihrer Architektur" Ich merkte, wie ich schwitzte und das lag sicherlich nicht an meinem mit Tran imprägnieren Regenmantel, "Die Klangerzeugung findet über einen Schalltrichter statt wie bei einem Schiffshorn. Stark genug, dass sein Signal über die Bucht und darüber hinaus transportiert wird. Mr. Denver gedenkt es zu bergen und seine Pläne in Serie produzieren zu lassen. Wir stehen sogar schon im Austausch mit Ingenieuren, die gemäß den Plänen ein Model entwerfen. Allerdings sind diese noch nicht ausgefertigt. Hier in Elrich dagegen war man seiner Zeit weit voraus und dasselbe sollten wir auch sein. Verschwinden wir von hier, sofort!"
Ich wollte mich schon zur Tür wenden, da stellte sich mir Thornton in den Weg. "Was soll das heißen: Seiner Zeit voraus? Was ist hier passiert? Was wird passieren."
"Das zu besprechen hat Zeit bis später. Sie haben eingewilligt, diesen Ort zu verlassen, wenn ich Ihnen Antworte liefere."
"Bisher haben Sie mir überhaupt nichts beantwortet! Ich habe immer noch..."
Doch noch ehe Thornton den Satz zu Ende bringen konnte, erscholl aus unbestimmter Ferne der etherische Gesang der Sirenen untermalt vom Rauschen der Aufziehenden Flut und dem Trommeln des Regens, der draußen gegen die Scheiben zu prasselte.
"Sie haben Recht, gehn wir!"
Auf hochhackigen Absätzen drehte sich der Versicherungsgutachter um 180 Grad, um an der dicken Eisentür herum zu werkeln. Erfolglos.
"Lassen Sie mich mal."
Ich schob Thornton beiseite und umklammerte nun meinerseits den schweren Knauf und begann ihn wie wild nach unten zu drücken. Der Stahl gab keinen Millimeter nach. Verzweifelt hämmerte ich gegen den Rost, aber es war vergebens. Dann ich mich um, den Blick auf die Fenster des Leuchtturm gerichtet. Wind und Wetter konnten ihnen nichts anhaben und ich hatte auch nichts, womit ich die Scheiben hätte einschlagen können.
"Es ist zu spät", flüsterte ich und sank zu Boden, die Hände an meine pulsierenden Schläfen haltend in ohnmächtiger Vorbereitung auf das Unvermeidliche, "Meine Zeit ist abgelaufen, ebenso wie die Elrichs."
"Zu spät wofür? Reden Sie endlich verdammt nochmal!", rief Thornton gegen das Heulen des aufziehenden Sturms an. Doch dann wurde es still und ich glaubte schon der Sirenengesang würde nun alles und jeden übertönen, doch dem war nicht so.
Als ich aufschaute erblickte ich, wie meinem Gegenüber ein schmales Rinnsal aus dem Mund lief. Es tropfte und der Boden vor meinen Füßen fing an sich rot zu Färben. Die von Speichel durchsetzte Masse lief Thornton in klebrigen Fäden aus dem vor Schreck offen klaffenden Mund.
"War es das wert, Mr. Gulliver, das was sie auf dem Grund den Meeres zu finden gehofft hatten?"
Ich verschlug die Hände vorm Gesicht in grausiger Erwartung dessen, dass auch mir bald der Saft aus allen Körperöffnung sprudeln würde.
"Es tut mir leid. Ich wollte nicht dass es dazu kommt. Nicht hier, nicht jetzt, nicht Sie. Hätten wir Typhon doch nur nie aus seinem Gefängnis befreit! Hätten wir doch nie den Leuchtturm geentert und seine Maschinerie wieder in Gang gesetzt! Es war unsere Schuld", gestand ich unfähig meinen Blick abzuwenden, "Wir haben das Seemonster erweckt. Es ging nicht um die Nebelglocke. Es ging nie um die Nebelglocke. Sie war nur Mittel zum Zweck genau wie ich. Wie wir alle!"
Meine Stimme drohte mir zu versagen, doch ich zwang mich weiterzureden. Ich konnte einfach nicht anders, als jene Geheimnisse, die sich über die letzten Wochen und Monate in mir angestaut hatten, mit der Flut aus mir heraus zu schwemmen. "Es war der Sirenengesang! Die Stimme Typhons lockte uns damit ein Tor in Elrichs Vergangenheit zu öffnen. Stattdessen aber führte sie uns geradewegs in den eigenen Untergang. Wir dachten, wir das Signal verschaffe uns Kontrolle über die Gezeiten, jedoch waren wir es, die von ihm kontrolliert wurden!"
Und nun standen sie an der Schwelle der Leuchtturms, um uns zu holen. Das konnte ich nun deutlich spüren. Typhon selbst erhob sich aus seinem nassen Grab! Ich merkt, wie mein Inneres begann sich nach außen zu verkehren. Dabei presste ich umso fester mir die Augen vors Gesicht aus Angst, dass sie mir herausspringen könnten.
Das Läuten schwoll jäh zu einem Dröhnen an, das die Luft zum vibrieren brachte. In Gedanken war ich wieder in der Taucherglocke an jenem Tag, an jenem unglückseligen Tag, als Knochen kochten und Fleisch versprang. Das, was auch immer ich da unten erblickt hatte, musste mich bis an die Oberfläche verfolgt haben. Unfähig etwas zu tun, sah ich nur hilflos dabei zu, wie sich nasses Rot aus Thorntons ergoss.
Ich selbst hatte das Gefühl mein Kopf würde unter dem Druck jeden Moment platzen. Und so verharrte ich gekrümmt noch eine ganze Weile, mich auf dem Boden windend meinem Schicksal ergebend. Doch zu meiner ungemeinen Überraschung blieb der große Knall aus.
Stattdessen streifte etwas über meinen Handrücken. An jenem Tag, ging es mir erneut durch den Kopf, hatten wir es gewagt eine uralte Macht, die auf dem Grund des Meeres lauerte, heraufzubeschwören. Jenes namenlose Ding war nun gekommen, um mich zu holen und ich gedachte nicht länger, mich seiner zu erwehren.
Vorsichtig lugte ich hinter meiner Deckung hervor, als jemand seinen Arm auf den meinen legte. Spitze Fingernägel bohrten sich unwillkürlich in den Ärmel meines Mantels.