Das Ding beobachtete diese Wesen schon eine lange Zeit. Wobei Zeit ja bekanntlich relativ war. Es wusste nur, dass solange es das Ding an dem Ort gab, auch schon die Wesen da waren. Der Ort war der jetzige Lebensraum des Dings. Manchmal, wenn es träumte, konnte es sich an eine Zeit erinnern, die vor dem Ort spielte. Eine Zeit, in der es sich nicht kriechend und schleppend über rauen Boden hatte fortbewegen müssen.
An jenem Vorort war es wie schwerelos gewesen. Es hatte nur wenig Licht gegeben aber dafür reichlich zu essen. Hier an diesem Ort dagegen war alles karg und tot. Das Ding lebte von dem, was das große Nass ihm schenkte. Manchmal fragte es sich, warum es sein altes Leben hinter sich gelassen und an Ort getrieben worden war. Es musste einen Grund gegeben haben, da war es sich ganz sicher, aber wie dieser Grund nun aussehen mochte, konnte es nicht in Worte fassen, selbst wenn es zum Sprechen im Stande wäre.
Es wurde dunkel und das Ding wagte sich aus seiner Deckung. Das Licht stach wie Nadeln in seiner Haut. Einzig das Weiß konnte es bei Tag schützen. Die Wesen jedoch mochten das Dunkel nicht. Sobald es aufzog fingen Sie auch schon an sich in ihren Unterschlupf zurückzuziehen.
Durch den Schutz schattenspendender Fassaden schlängelte sich das Ding durch den Schutt und den Dreck, der an seinem Körper haften blieb, weiter und weiter vor. Die Wesen waren mehr geworden. Zu den drei, die ihm vertraut waren hatte sich ein viertes hinzugesellt. Es war anders als die anderen, aber das Ding konnte nicht recht sagen, warum. Es hatte Streifen und verbarg seine Augen hinter etwas glänzendem.
Mit Lauten und Berührungen, die es nicht verstand, hatten sich die Wesen untereinander bekannt gemacht. Natürlich konnte es mit ihren Namen nichts anfangen. Das Konzept von Identität war in gewissem Sinne noch Neuland für das Ding. Es selbst hatte daher auch keinen eigenen. Das Ding war einfach nur das Ding. Mehr musste es nicht wissen. Mehr wollte es nicht wissen. Zumindest war es so gewesen, bis die Wesen zu dem Ort gekommen waren. Seitdem sah sich das Ding mit einem Mal damit konfrontiert zwischen sich und anderen unterscheiden zu müssen.
Dem Ding machte die neue Erscheinung Angst, dennoch wagte es sich weiter vor. Es wollte mehr wissen und es hatte gelernt, dass die Wesen es nicht beachteten, wenn es sich nicht offen zeigte.
Denn die Wesen waren blind für Ihre Umwelt. Sie interessierten sich nur für sich selbst. Sie waren vollkommen entkoppelt von dem Außen und verschanzten sich, wenn das Licht sie nicht schützte, denn sie verstanden nur das, was sie sehen konnten.
Die Wesen hatten an jenem Tage ihre schützende Festung verlassen und das Ding traute sich weiter vor, um ihnen zu folgen. Ihre Schritte führten sie zu dem Tempel.
Der Tempel war ein heiliger Ort, das wusste das Ding, wenn auch nicht warum. Eines der Wesen, das Gestreifte, wagte es dann doch tatsächlich die Helligkeit hinter sich zu lassen und begab sich ins Dunkel. Entweder war es sehr mutig oder aber sehr dumm. Das Ding konnte sich nicht entscheiden. Wenig später folgte ihm ein anderes Wesen. Das Ding beschloss mitzuspielen und nahm nun ebenfalls die Verfolgung auf. Beinahe war ihm wieder wie im großen Nass, als es nur Jäger und Beute gab. Bedächtig quetschte es sich sich durch Spaltöffnungen, rutschte über rauen Stein und kroch die Außenseite des Tempels hinauf, in dem die Wesen verschwunden waren.
Das Heiligtum zu entweihen, indem es es selbst betrat, würde das Ding nicht über sich bringen können, aber eine solch unverzeihliche Häresie war auch nicht notwendig, um die Wesen zu beobachten. Zwar hatte das Ding keine Augen und konnte daher nicht im klassischen Sinne sehen, aber seine freiliegenden Nerven waren in der Lage elektrische Impulse aus der Luft aufzuschnappen und so seine Umgebung zu sondieren. Hören tat es mit seiner Haut, auf der jedes Geräusch, jeder Laut, jede noch so winzige Schallwelle weitergeleitet wurde.
Die isolierten Wände, hinter denen sich die Wesen verkrochen, stellten dabei keinerlei Hindernis dar. Das Ding verstand sie laut und deutlich. Auch wenn ihm die Bedeutung der einzelnen Worte verborgen blieb, so war es sich doch gewahr, was sie transportierten. Ihre Laute trieften nur so vor Emotionen: Angst, Aufregung, Mordlust. Die Wesen schienen sich uneins zu sein. Anders als das Ding konnten sie einander nur schwerlich verstehen. Das neue Wesen hatte versucht die Alten von etwas zu überzeugen. Es verstand nicht, dass es nicht der Jäger sondern die Beute war.
Als das Ding noch im großen Nass gelebt hatte, hatte es auch gejagt. Nicht von Toten sondern sondern Zappelnden hatte es sich ernährt, indem es sich unter dem staubigen Nassboden getarnt und hinter Felsen gelauert hatte, nur um im richtigen Moment zuzuschlagen. Seine Beute hatte nie auch nur den Hauch einer Chance gehabt.
Ein solcher Moment stand auch den Wesen, die es sich im Allerheiligsten bequem gemacht hatten, bevor. Ohne Demut, geschweige denn Reue hatten sie sich ganz oben vor dem Altar eingefunden, so wie sie es schon zahllose Mal zuvor getan hatten. Denn sie wussten nicht, was sie taten. Die Wesen waren Blinde, die versuchten zu sehen. Sie konnten nur ahnen, dass das Gericht über ihre Frevel bald über sie kommen würde.
Eines der Wesen war sich des kommenden Unheils nur allzu bewusst, das andere bewegte sich im Dunkeln, obwohl es noch hell war. Das Ding wollte meine wissen und kroch weiter, senkrecht den achteckigen Obelisken aus Stahl und Stein hinauf. Oben angekommen wartete auf es der Altarraum, seine Wände aus Transparent erbaut. Das Ding legte seine Haut über die Scheibe und hörte, was die Wesen zu sagen hatten.