
Es dämmerte bereits, als meine Finger klickend und klackend über die Tasten meiner tragbaren Schreibmaschine huschten. Wie sollte ich nur anfangen?
Erneut setzte ich an die richtigen Worte zu finden, um meine Eindrücke bestmöglich zu schildern. "Sehr geehrter Mr. Locksmith... nein, nein, viel zu gestelzt. Wie wäre es mit: Lieber Mr. Locksmith... nein, das passt auch nicht, zu vertraut."
Ich raufte mir die Haare über dem Kopf zusammen und ließ die angefangene Seite in den Papierkorb wandern. Was sollte ich auch schreiben? Dass ich bislang keine neuen sachdienlichen Erkenntnisse gesammelt hatte? Dass die Versicherung pleite gehen, er schnellstmöglich seine Frau verlassen und seinen Tod vortäuschen sollte?
Es klopfte und Gullivers Stimme ertönte von der anderen Seite der Tür. Er war gekommen, um sich zur dies morgentlichen Befragung zu melden. Das hatte ich vollkommen vergessen. Ich ordnete schnell meine Frisur und öffnete ihm die Tür. Er trug noch dieselben wetterfesten Sachen vom Vortag. Ohne, dass ich ihm einen Platz angeboten hätte, fläzte er sich schwungvoll auf einen Stuhl mir gegenüber.
"Na dann, kommen wir zur Sache. Um ehrlich zu sein, ich war etwas überrascht, als ich gesehen habe, dass die Versicherung jemanden wie Sie zu uns geschickt hat."
Ich zog eine Augenbraue hoch. "Wir leben in den Zwanzigern."
"Sicher, sicher. Nun, ich schätze mal bei einem Bürojob packt man auch nicht so hart an wie auf einer Farm oder einer Tauchstation."
Ich musste mir ein Lächeln verkneifen. Der Junge nahm sich mir gegenüber entschieden zu viel raus. Wenn das so weiterging, musste ich ihm wohl oder übel Manieren beibringen.
"Im Wesentlichen interessieren mich nur zwei Dinge: Was genau ist in dieser Taucherglocke passiert und wie konnte es dazu kommen?"
Gulliver blies seine Backen auf und atmete dann geräuschvoll aus, ehe er antwortete: "Das ist eine komplizierte Geschichte."
"Ich habe Zeit."
Gulliver stieß einen leisen Pfiff aus, ehe er anfing zu erzählen: "Das ganze Unterfangen ist von Beginn an von Unfällen und seltsamen Vorkommnissen begleitet worden. Kaum hatten wir das Plateau, auf dem jetzt der Kran steht, erfolgreich aufgebaut, ist es auch schon wieder zur Hälfte in die Bucht abgesunken. Die Anbringung einer solchen Vorrichtung ist kompliziert. Ein Großteil des Aufbaus fand Unterwasser statt. Sechs der Aufbauarbeiter mussten mit einem Boot evakuiert werden als die Flut über uns hereinbrach. Die Hälfte von ihnen ging über Bord."
Ich machte mir schweigend meine Notizen, obwohl ich innerlich brodelte. Es war also schon einmal zu Unfällen gekommen! Wenn ich wieder zurück in Providence war, würde ich Mr. Locksmith zwingen sich auf Knien dafür zu entschuldigen diesen Fall angenommen zu haben.
"Die Monate verstrichen und die Unfälle häuften sich mit der Zeit. Viele der Arbeiter wanderten daraufhin freiwillig ab. Mr. Denver bezahlt seine Angestellten gut, aber was bringt Geld, wenn man es nicht mehr ausgeben kann?"
"Was können sie mir über den letzten Todesfall erzählen?"
Ehe er fortfuhr, griff sich Gulliver in die Hosentasche, holte eine zerkratzte Dose hervor und steckte sich einen Kaugummi zwischen die Zähne.
"Auch einen?"
Ich verneinte.
"Die sind allemal gesünder als ihre Glimmstängel", entgegnete er, steckte die Dose jedoch ein. "Sollte jemand, der bei einer Versicherung arbeitet, nicht gesundheitsorientierter leben?"
"Man zieht mich in der Regel immer erst dann zu Rate, wenn es schon zu spät ist. Risikoprävention ist nicht mein Resort."
"Aber wenn die Leute besser auf sich aufpassen würden", überlegte Gulliver kauend, "müssten Sie dann nicht seltener zahlen?"
Ich beugte mich zu ihm vor und schenkte ihm mein strahlendstes Lächeln. "Mein lieber Mr. Gulliver, wenn Leute besser auf sich aufpassen würden, dann gäbe es Leute wie mich gar nicht."
"Das fände ich schade", sagte er, sichtlich bemüht seinen Kaugummi nicht hinunter zu schlucken.
"Na dann, sprechen wir ein Hoch aus auf all die Unvorsichtigen, Wagemutigen und Vollidioten. Jenen darwinistischen Sackgassen, denen wir es zu verdanken haben, dass wir beide uns hier unterhalten können. Und wo wir gerade schon beim Thema darwinistische Sachgassen sind: Wie genau gestaltete sich der Unfall aus Ihrer Sicht?"
Nun musste Gulliver doch schlucken. Mit einer solch eiskalten Reaktion hatte er offensichtlich nicht gerechnet.
"Es ist alles eine Frage der Atmung", stieß er an, nachdem er sich einen weiteren Kaugummi aus seiner Hosentasche gepuhlt hatte. "Selbst wenn Sie genug Sauerstoff und eine probate Tauchausrüstung haben, Unterwasser sind sie der See schutzlos ausgeliefert. Und je tiefer sie tauchen, desto gefährlicher wird es. Wir mögen zwar Trockentaucheranzüge entwickelt haben, um den Problemen, die da unten lauern, aus dem Weg zu gehen. Aber ein Problem, dem wir nicht aus dem Weg gehen können, ist die Notwendigkeit zu atmen.
Sehen Sie, wenn Sie wirklich tief unter Wasser sind, dann sind nicht nur Sie umgeben von Druck. Auch die Gase, die Sie einatmen, stehen unter Druck. Wenn Sie über Wasser Luft ein- und ausatmen, ist in der Regel alles in Ordnung. Steht ihr Körper jedoch unter Druck, strömen diese Gase in ihren Organismus, kommen aber nur schwer wieder raus. Elemente wie Stickstoff fangen an sich in Ihren Gefäßen einzulagern und in die Blutzirkulation eingreifen. Die körpereigenen Hohlräume wie Augen, Ohren und Nase sind eklatante Schwachstellen beim Tieftauchen.
Auf dem Weg nach unten mag das noch kein Problem darstellen. Kritisch wird es erst dann, wenn sie wieder auftauchen. Denn wenn beim Auftauchen zu schnell zu viel Druck von ihnen genommen wird, fängt der Stickstoff in Ihrem Blut an Blasen zu erzeugen. Stellen Sie sich das einmal vor? Wir reden hier von circa 4,5 bis 5,5 Liter bei einer erwachsenen Person, die in ihren Lungen, ihren Arterien, ihren Knochen und nicht zuletzt auch in ihrem Herz und Gehirn anfangen zu sprudeln."
Ich nickte. Er sprach von der sogenannten Taucherkrankheit.
"Das Ergebnis sind unvorstellbare Schmerzen, die mitunter bis zum Tod führen können. An sich ist daran nichts erschreckendes. Die Blasen platzen und etwas in ihrem Körper gibt auf. Ein vollkommen natürlicher Prozess."
Bei diesen Worten blies seinen seinen Kaugummi auf, bis dieser mit einem lauten Knall nachgab.
"Und daher benötigen Sie die Dekompressionskammer", folgerte ich.
"Exakt. Je tiefer sie tauchen, desto schwerer wird es für Sie wieder hochzukommen. In der langsam auftauchenden Kammer hat der Organismus Zeit, sich an die veränderten Außenbedingungen anzupassen. Alte Luft wird ausgestoßen, neue eingeatmet, wohingegen der Druck stetig ablässt. Die Zeit zur Dekompression kann dabei mitunter länger dauern, als die Stunden, in denen wir da unten arbeiten.
"Was treibt einen dazu einen solchen Job anzunehmen?"
Er seufzte. "Mehr Geld, als man auf einer Farm verdienen würde."
"Was bringt Geld, wenn man es nicht mehr ausgeben kann?", konterte ich.
Nun war es an ihm sich ein Lächeln zu verkneifen.