Nachdem wir die Kranvorrichtung und die ihr anhängige Taucherglocke hinter uns gelassen hatten, machten wir uns wieder auf Richtung Pier.
"Als die große Flutkatastrophe über Elrich hereinbrach", führte Mr. Denver aus, "haben die umliegenden Ortschaften sofort Kenntnis von der Katastrophe genommen. Es wurde von unvergleichlich schönen Klängen berichtet, die an ihre Küsten brandeten."
Perplex kniff ich die Augen zusammen. "Umliegende Ortschaften? Die nächste Siedlung müsste meilenweit entfernt sein."
"Über zwölf Meilen, um genau zu sein. Die nächstgelegene Siedlung ist ein Fischerdorf, das am Küstenstreifen ein gutes Stück nördlich von uns liegt."
"Und wie konnten Sie dann so schnell davon Notiz nehmen?"
"Die Nebelglocke. Es heißt, dass in jener stürmischen Nacht, in der Elrich seinen Untergang fand, habe man in allen umliegenden Gebieten das wunderschöne Läuten einer Glocke gehört, die selbst den tosenden Sturm zu übertönen vermochte."
"Sirenengesang?"
"Exakt. Die Berichte wurden von verschiedenen Zeugen aus mehreren Ortschaften unabhängig voneinander bestätigt."
"Und danach suchen Sie? Nach einer Glocke?!" Mein Blick wandte einer Eingebung folgend zu dem nahegelegenen Leuchtturm, wurde jedoch nicht fündig.
Denvers schenkte mir erneut sein öliges Lächeln. "Sie haben durchaus die richtige Idee, aber nein, die Glocke ist nicht am Leuchtturm angebracht, nun, zumindest nicht so, wie Sie es sich vorstellen. Lassen Sie mich erklären: Es handelt sich dabei um einen Prototypen, der nie in Serie gegangen ist. Eine Nebelglocke, die Unterwasser läuten konnte."
"Unterwasser? Und wie bedient man sie?"
"Das ist ja gerade das geniale! Nicht nur, dass es mit ihr möglich ist, Unterwasser zu läuten, sie versorgt sich auch noch vollautomatisch. Die Apparatur ist nämlich an einen Wasserradgenerator gekoppelt, ein Modell, das seinerzeit der Konkurrenz um Jahre voraus war. Inzwischen hat die Energiegewinnung beträchtliche Fortschritte gemacht, aber die Glocke und die Technik, die hinter ihr steht, ist ein Unikat und sollte geborgen werden."
"Tatsächlich?", äußerte ich skeptisch. "Wer hätte denn Verwendung für eine Glocke, die unter Wasser läutet?"
"Oh, da würden mir so einige einfallen. Ich denke da zum Beispiel an den ein oder anderen Marineadmiral, dem beim bloßen Gedanken daran das Sonar feindlicher U-Boote unbrauchbar zu machen der Mund wässrig würde. Diese Stadt hat eine lange Geschichte mit Militärforschung, müssen Sie wissen. Aber lassen Sie den Verkauf mal ganz meine Sorge sein. Ihre Aufgabe ist es, für die damit verknüpften Unannehmlichkeiten aufzukommen."
"Meine Aufgabe ist es", korrigierte ich ihn, "festzustellen, ob diese Unannehmlichkeiten nicht eventuell selbst verschuldet sind."
Einen Moment lang huschte ein seltsamer Schatten über Charles Denvers Gesicht. Aber so schnell wie er kam, war er auch schon wieder verschwunden, und statt seiner zeigte er wieder sein triefendes Lächeln. "Aber gewiss doch. Bitte entschuldigen Sie meine Voreiligkeit. Visionäre wie ich haben die Angewohnheit in der Zukunft zu denken und vergessen dabei schonmal das hier und jetzt."
"Solange diese Marotte nicht meine Untersuchungen beeinträchtigt, soll es mir recht sein."
Inzwischen waren wir bei der Bergungsstation angekommen.
Aus nächster Nähe betrachtet war ich mir nicht einmal sicher, ob sich die Mannschaft überhaupt die Mühe gemacht hatte ihrer Behausung einen neuen Anstrich zu spendieren, oder ob sie den hier ansässigen Vogelarten die gesamte Arbeit überlassen hatten. Seltsamerweise schien es jedoch das einzige Gebäude zu sein, das derartig in Mitleidenschaft gezogen wurde. Die Häuserruinen, die mich bei meiner Ankunft empfangen hatten, mochten noch so sehr von Tang umschwemmt worden sein, aber Spuren von Getier hatte ich nirgends gesehen.
Auf dem Absatz drehte ich mich noch einmal zu ihm um.
"Sie sind ein ungewöhnlicher Mann, Mr. Denver. Sagen Sie mir: Was hat Sie wirklich nach Elrich verschlagen?"
Dieser quittierte meine Frage mit einem höchst sonderbarem Blick. "Wussten Sie das denn nicht? Dieser Ort zieht ungewöhnliche Geister seit jeher an."
Mit dieser Antwort würde ich mich wohl zufrieden geben müssen. Vorerst zumindest.
"Es ist schon spät", sagte ich mit Blick auf die untergehende Sonne. "Ich schlage vor, dass wir die Befragungen der einzelnen Mitarbeiter auf Morgen verschieben. In der Zwischenzeit wünsche ich nicht gestört zu werden."
Gulliver war sofort zur Stelle, um die Tür aufzuschließen und um mich zu seinem Zimmer zu geleiten, während Malloy und Mr. Denver sich in ihre eigenen Quartiere zurückzogen.
Nachdem ich mein Zimmer bezogen hatte, setzte ich mich an den Schreibtisch und packte Schreibmaschine aus. Ich führte eine Seite ein und setzte meinen ersten Bericht auf. Das Tippen half mir dabei meine Gedanken zu ordnen.
Irgendwie glaubte ich nicht so ganz daran, dass es Mr. Denver nur um eine einfache Glocke ging. Sie mochte vielleicht der Auslöser für seine Operation gewesen sein, aber mein Instinkt sagte mir, dass weit mehr dahintersteckte. Es ergab auch wenig Sinn, dass die Glocke in einer solchen Tiefe angebracht worden war, in der die Mannschaft tauchte. Aber wenn es nicht die Glocke war, wonach Sie suchten, was dann?
In seinem Bericht hatte Denvers erläutert, dass der Tod seines Mitarbeiters auf einen Tauchunfall im Zuge der Bergungsarbeiten zurückzuführen sei. Dabei sei der Druckkammer, die den Taucher während des Hochkommens vor Dekompressionsschäden schützte, eine Fehlfunktion unterlaufen, die auf äußere Umstände zurückzuführen seien.
Ich war mir da nicht so sicher. Meiner Erfahrung nach erwies sich unter all den Naturkatastrophen und Schicksalsschlägen, der menschliche Fehler immer noch als wahrscheinlichste Katastrophenursache.
Eine solche Erklärung würde Mr. Denver jedoch vehement ablehnen, hatte er doch sowohl seine Ausrüstung als auch die einzelnen Besatzungsmitglieder auf horrende Summen versichern lassen. Ob in weiser Voraussicht oder aus berechnendem Kalkül konnte ich noch nicht abschließend beurteilen. Erst brauchte ich Beweise, die meinen Verdacht erhärteten.
Müde vom vielen Denken legte ich meinen Kopf auf die Schreibmaschine. Ich beschloss für heute Schluss zu machen und räkelte mich auf meiner Schlafmatte an der Wand, die die Bezeichnung Bett kaum verdient hatte. Es gab doch nichts über eine billige Unterbringung, um einen mysteriösen Versicherungsfall aufzuklären! Das alles war großartig, einfach großartig. Alles deutete bisher daraufhin, dass wir blechen mussten. Und als wäre das nicht schon verzwickt genug, beschlich mich das ungute Gefühl, dass dies erst der Anfang meiner Probleme sein würde. Eine wahre Gruselgeschichte war das!
Als ich mich so mit voller Inbrunst in das harte Kopfkissen stürzte, begann mein Körper mit einem Mal zu kribbeln. Dann hörte ich es auch: Sirenengesang. Das Läuten einer Glocke, welche eine eigenartige Melodie formte, durchdrang mit einem mal meinen ganzen Körper. Wie elektrisiert sprang ich mit einem Satz auf die Beine.
Es war eine Sache, nur davon zu hören, aber eine ganz andere, es am eigenen Leib zu erfahren. Ich griff in meine Hemdtasche und besah mir meine Taschenuhren. Beide Ziffernblätter zeigten die exakt selbe Uhrzeit. Irgendetwas an diesem Ort stimmte nicht und ich wollte herausfinden, was es war!