Der Anblick, der sich mir bot, fiel alles in allem aber dann doch recht enttäuschend aus. Ich hätte eigentlich damit rechnen sollen, dass die gröbsten Spuren von Wind und Wetter bereits beseitigt worden sind, hätte mir dennoch etwas mehr... nun ja, mehr eben erhofft.
Zentrum meines Interesses weckte natürlich die massive Plattform am Ende des Stegs, an der einen tonnenschwere Krankonstruktion angebracht worden war. An dessen Haken hing, im Wellengang der rauen See sanft auf und auf wippend, ein gewaltiges, eisernes Etwas. Die Kugel, welche mit einem dicken Stahlgestell versehen war, hatte es ungemein Fremdartiges an sich.
Fast gemahnte mich dieses Konstrukt eher an die Kampfmaschienen aus dem All, mit deren Beschreibung ein Orson Wells während einer Radioübertragung seine Zuhörer in Furcht und Schrecken versetzte, denn an etwas, dass terrestrischen Ursprungs sein konnte.
Das also war eine Taucherglocke. Wie sie so da auf dem Wasser trieb, sah sie eigentlich recht friedlich aus. Außer vielleicht ein paar auffällig rostroten Spuren rund um die Öffnungsluke, gab es nichts, was dem unbedarften Beobachter etwas hätte verraten können.
Es war wirklich kaum zu glauben, dass sich just an dieser Stelle einer der brutalsten Tode in der Geschichte der industrialisierten Seefahrt abgespielt hatte. Und das alles ausgelöst durch simple Physik.
Ungeduldig, wollte ich das Innere der Druckkammer mit eigenen Augen sehen, doch als ich meine Begleiter dazu aufforderte, die Kammer zu öffnen, verweigerten Sie mir den Befehl. Erst nach mehrmaligem Berufen auf die Notwendigkeit der Untersuchung, kamen sie schließlich meinem Drängen nach und setzten den komplizierten Öffnungsmechanismus in Gang.
Das Innere der Glocke gestaltete sich als weitaus spannender. Vor nicht einmal zwei Tagen, hatte die Kranaufhängung etwas an die Oberfläche gezogen, das nicht mehr viel mit einem menschlichen Wesen zu tun gehabt hatte. Ich habe schon bei vielen Fälle menschlichen Körpers gesehen, die aufs groteskeste verformt waren, sowohl auf Abbildungen als auch in Natura. Manche hervorgerufen durch höhere Gewalt und andere durch gezielt herbeigeführte. Nichts davon hätte mich hierauf vorbereiten können.
Ich stieß einen anerkennenden Pfiff aus. "So etwas sieht man auch nicht alle Tage. Wie lange liegt die Leiche schon so da?"
"Seit vorgestern", meinte Gulliver betreten, "wir haben ihre Gesellschaft noch am selben Tage kontaktiert."
"Was ist mit den Behörden?"
Er zuckte mit den Schultern. "Wir haben sie kontaktiert, aber noch keine Rückmeldung von dem Dezernat in Providence erhalten."
"Und wo ist dann der Rest?"
"Es gibt keinen Rest. Das ist alles, was von ihm übrig geblieben ist."
Ich stieß erneut einen Pfiff aus, diesmal um mir selbst dafür Anerkennung zu zollen, dass ich mich nicht gleich ins feuchte Nass zu übergeben hatte. Gulliver legte mir einen Hand auf die Schulter und ich beschloss ihn gewähren zu lassen.
Während wir so dastanden hatte der Aufseher der Bergungsarbeiten sich federnden Schrittes zu uns gesellt. Es handelte sich dabei um gutgekleideten Gentleman mit graumeliertem Haar, dessen Auftreten genau so ölig wirkte wie sein Oberlippenbärtchen.
"Seien Sie gegrüßt. Charles Denver mein Name angenehm."
Ohne ein Wort der Vorwarnung, versuchte er mich auf die Wange zu küssen, weil das in seinem Heimatland wohl so Sitte sei, wie er mir versicherte, doch schaffte ich es ihn abzuwehren. Die noch offenstehende Luke zur Druckkammer und das, was sich dahinter offenbarte, schienen ihn nicht im mindesten zu beeindrucken.
Ich beschloss mir an ihm ein Beispiel zu nehmen und hielt ihm meine Visitenkarte wie eine Pistole gestreckt direkt vors Gesicht, um ihn auch ja auf Abstand zu halten.
"Pryce Thornton. Ich wurde damit betraut die Untersuchungen in der Versicherungssache vorzunehmen."
Ich wusste sofort, dass ich ihn nicht leiden konnte. Er trug einen khakifarbenen Anzug. Khaki?! Ich hasste diese Farbe und das sagte ich ihm auch ins Gesicht: "Ich hasse diese Farbe."
"Ich bin untröstlich", konnotierte er mit wehmütigem Gesichtsausdruck und ließ meine Karte in einer seiner vielen Westentaschen verschwinden.
"Ich glaube Ihnen nicht. Würde es Ihnen wirklich leid tun, würden sie nicht in so einem hässlichen Anzug rumlaufen."
Jetzt war ich erst recht entschlossen, dass nicht ein Cent unserer Gesellschaft in dieses sinnlose Unterfangen versenkt würde. Wenn ich etwas noch mehr verabscheute als mutmaßliche Versicherungsbetrüger, dann waren es schlecht gekleidete, mutmaßliche Versicherungsbetrüger!
Außer einem bedauernden Lächeln erhielt ich jedoch keine Reaktion. Die Hände in die Hüfte gestemmt wandte ich mich also an seine Untergebenen, die inzwischen zu uns aufgeschlossen hatten.
"Wer von den Gentlemen hätte die Güte mich darüber aufzuklären, wie es dazu genau kommen konnte?"
Mr. Denvers Mundwinkeln bebten daraufhin vor Lachen, obwohl es eigentlich nichts zu lachen gab. Er breitete die Hände aus und führte mich Richtung Ufer. "Ich glaube, wir haben uns auf dem falschen Fuß erwischt. Malloy, seien sie doch bitte gut und machen", er tat eine wegwerfende Handbewegung in Richtung Taucherglocke, "dieses Ding zu, während ich unseren Besuch auf den neusten Stand bringe."
Geschickt geleitete er mich einige Meter von der Unfallstelle weg und führte mich wieder Richtung Bergungsstation. "Wir haben Ihrer Gesellschaft doch bereits eine Nachricht zukommen lassen, in der der Tathergang detailliert beschrieben wurde. Was sonst ließe sich klären?"
"Ihr Bericht", korrigierte ich ihn, "weißt so einige blinde Flecken auf. Beispielsweise haben Sie es vollkommen versäumt zu erwähnen, bei welchen Arbeiten der Verunglückte genau ums Leben kam."
"Selbstverständlich bei einem Bergungsgang", versuchte Denvers abzuwinken. Mein bohrender Blick verriet ihm jedoch, dass ich mich mit dieser Erklärung nicht würde zufrieden geben.
"Entschuldigen Sie bitte dieses unbedeutende, kleine Detail muss mir wohl entgangen sein, als ich den Bericht verfasst habe. Wir stehen hier alle immer noch ziemlich unter Schock."
Irgendwie wollte ich das nicht so recht glauben.
"Und wonach haben Sie da unten nun eigentlich gesucht?", fragte ich gezielt an Gulliver gerichtet.
Dieser schaute jedoch zu Mr. Denver, der statt seiner antwortete: "Sirenengesang."
"Sirenengesang?", wiederholte ich.
"Sirenengesang, entgegneten Gulliver und Malloy unisono.
"Sirenengesang.", sagten wir dann alle wie aus einem Munde.
"Also gut", flüsterte ich zu mir selbst, "dann also Sirenengesang."