...und dann haben sie sich gegenseitig aufgegessen.
"Thornton!"
Der unverhoffte Klang ließ mich unwillkürlich zusammenzucken. Ich war gerade dabei gewesen, meinen Bericht zur Jungfernfahrt der Medusa 2 abzutippen, als die dröhnende Bass meines Chefs mich je aus meinen Gedanken riss.
Entnervt schaute ich auf die volle Blattpapier meiner Schreibmaschine geradewegs auf einen Tippfehler. Nach kurzem Zögern entschloss ich mich, die Seite doch nicht wegzuwerfen und machte mich auf in das spärlich ausstaffierte Büro.
Mr. Locksmiths Sessel war verweist, kaum verwunderlich, schien doch sein Eigentümer viel zu sehr damit beschäftigt die Wände rauf und runter zu laufen. Es handelte sich bei ihm um einen stattlichen Mann mittleren Alters, der sein tiefschwarzes Haar auf eine Weise nach hinten kämmte, die seine New Yorker Geschäftsfreunde wohl als modisch ansehen mochten.
"THORN-"
"Sie wünschen, Sir?"
Nun war es an ihm zusammenzucken, als ich seinen allstündigen Wutausbruch mit einem süffisanten Flüstern unterbrochen hatte. Der kleine Spaß würde mir sicherlich einige Überstunden einhandeln, aber das sollte es mir wert.
"Ahja" Verblüfft über mein lautloses erscheinen, rückte er erst Hemd und Kragen zurecht, ehe er kleinlaut entgegnete: "Der Bericht über das Schiffsunglück..."
"Auf ihrem Schreibtisch", sagte ich und knotete ihm seinen schlechtgebundenen Schlipps zu.
"Oh, d-danke, ich meine... und was ist mit den Schreiben an die Hinterbliebenen des Schwarzen Donnerstags."
"Schon erledigt", sagte sich und zog ihm diesmal seine steife Krawatte besonders eng. Von so einem neureichen Schnösel würde ich mir ganz sicher nicht die Leviten lesen lassen. "Die Lebensversicherung greift nicht bei Selbsteskortierung durch das Bürofenster im obersten Stock."
"Ausgezeichnet", brachte er gerade so nach Luft ringend hervor. "Ich meine natürlich, dass die Sache erledigt ist und nicht die Leute, die sich selbst erledigten. Ich meine... Sie wissen, was ich meine. Ich brauche Sie nämlich für einen Außeneinsatz!"
Als hätte ich es mir nicht schon denken können, verdrehte ich die Augen in gespielter Überraschung. "Was ist es diesmal? Lassen Sie mich raten: Lassen Sie mich raten: Geht es wieder um ein verunglücktes Passagierschiff, dessen Besatzung unverhofft verschütt ging und anfing dem Selbstverzehr zu frönen?"
"Das ist nur ein einziges Mal vorgekommen!", eschauffierte sich Mr. Locksmith. Dann kämmte er mit der Hand seine mit Pomade zugekleisterten Haare zurück, um wieder etwas an Fassung zu gewinnen. "Nun, ja, historisch gesehen zweimal, aber nein, ihr jetziger Fall findet an der Küste Stadt."
Er schritt zu seinem Schreibtisch und holte eine schwerbeladene Akte aus einer seiner bodenlosen Schubladen.
"Haben Sie schon einmal von de Ortschaft Elrich gehört?"
"Habe ich nicht, Sir", entgegnete ich mit Unschuldsmiene. Selbstverständlich hatte ich schon von Elrich gehört. Jede Versicherungsgesellschaft in ganz Road Island hatte das. Aber es war einfach zu köstlich ihn auf die Palme zu bringen.
"Halten Sie mich nicht zum Narren!", blaffte er zurück, "Ich rede von diesem gottverlassenen Küstenloch, wo sich vor 10 Jahren eine Flutkatastrophe ereignet hat und von dem nur ein Wahnsinniger glauben könnte, es zu versichern!"
"Sie meinen Wahnsinnige wie wir, Sir?"
Augenblicklich sackte er in seinem Stuhl zusammen und schob mir die Akte hin. "Sie haben wieder mal in der Buchhaltung geschnüffelt oder?"
Ich zuckte mit den Schultern. "Irgendwer muss den Laden schließlich am laufen halten. Es hatte mich schon stutzig gemacht, dass unser Betrieb Mitte August von einem Tag auf den anderen aus den roten Zahlen kam, und unsere Konten mit regelmäßigen Zahlungen in beträchtlicher Höhe geflutet wurden. Fast hatte es den Anschein gehabt, als hätte da jemand einen dicken Fisch an Land gezogen."
Ich wusste, dass ich ihm nichts erzählte, was er nicht ohnehin schon wusste, und doch genoss ich es, jede einzelne Silbe auszukosten, während ihm nichts anderes übrig blieb, als sich in seinem zerknautschten Drehsessel hin und her zu winden.
"Zeigen Sie doch endlich Erbarmen mit mir!", brüllte er in gleichem Maße aufgebracht wie flehend. "Ich hatte keine Wahl, ok. Die Firma stand schon zu lange in den Miesen. Eine Katastrophe reihte sich an die andere und wer durfte für den ganzen Ärger aufkommen?! Natürlich wir!"
Meine Augen flogen über die ersten Seiten der Akte. Es ging scheinbar um eine Art Tauchvorhaben, das an der Küste von Elrich verwirklicht werden sollte, genauer gesagt direkt an dem alten Hafenviertel, dass damals überschwemmt wurde.
"Und da haben sie dieses Angebot angenommen?"
"Mir blieb nichts anderes übrig" , verteidigte er sich. Ich dachte es wäre eine gute Gelegenheit fette Raten einzustreichen für eine Versicherungssumme, die wir nie auszahlen müssten. Das Dorf war doch ohnehin nicht mehr bewohnt und außer Nebel hatte es seither keine weiteren großen Wetterbrüche mehr gegeben. Wer hätte denn ahnen können, dass..."
Meine Augen erblickten eine verwaschene Schwarzweißfotografie und mir wurde schlagartig klar, dass das wieder einer dieser Fälle werden würde. Auf einmal wünschte ich mir wieder die Kannibalen zurück.
Seufzend legte ich die Papiere beiseite und schaute Mr. Locksmith durch die Gläser meiner Lesebrille aufmerksam an. Vollkommen resigniert war er auf seinem Stuhl zusammengesunken. Ich setzte nun auch meine Brille ab, beugte mich über seinen Antikschreibtisch zu ihm und zog ihn an seiner Krawatte ganz nah an mich ran, sodass er keine andere Möglichkeit hatte, als mir direkt ins Gesicht zu sehen.
"Und Sie sind nicht auf die Idee gekommen, mir bescheid zu sagen, bevor Sie so eine Dummheit anstellen?"
Verstohlen versuchte er zur Seite zu schielen, doch ich ließ es nicht zu, und folgte ihm bei jeder seiner Kopfbewegungen.
"Bitte, helfen Sie mir, i-i-ich meine der Firma. Wir haben nicht das Geld um die Versicherungssumme auszuzahlen. Verstehen Sie? Meine Frau darf davon nichts erfahren."
Ich verdrehte die Augen, diesmal nicht nur zum Schein und ließ mich wieder auf meinen Platz ihm gegenüber fallen. Dann tat ich eine geschlagene Minute so, als würde ich es mir überlegen, ehe ich antwortete: "Ok, wie lautet mein Auftrag."
Freudestrahlend nannte er mir die weiteren Details.
"Ich wusste, dass ich mich auf Sie verlassen kann."
Er ergoss sich noch eine ganze Weile in inhaltsloses Gesabbel, während ich schon plante, wie ich ihn wohl dafür zahlen lassen könnte. Oh, er würde leiden, ganz sicher. Aber das machte das Spiel auch aus.
Und so saß ich am nächsten Tag im Zug Richtung Elrich. Ich hatte keine Ahnung, was ich dort vorfinden würde, aber ich wusste, dass ich es kaum erwarten konnte.
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