Mit schweren Schritten kam Mr. Duff ganz nahe an mich heran. Noch ehe ich protestieren konnte, hob er mich auch schon auf die Füße und bugsierte mich in die Mitte des oktogonalen Raumes, geradewegs auf die Linse zu.
"Was soll das?", fragte ich entsetzt. "Lassen Sie mich gehen!"
Allmählich verspürte ich wieder ein Gefühl in den Armen, doch als ich mich daran machte, freizukommen, fixierte er mich nur umso fester.
"Wehren Sie sich nicht! Eine kleine Elektroschocktherapie und Sie werden wieder beisammen sein."
Nur über meine Leiche! Ich erging mich noch etwas in fruchtlosem Zappeln, um davon abzulenken, wie sich meine andere Hand um den Silberschlüssel in meiner Hosentasche krampfte. Unbemerkt ließ ich ihn von meiner Rechten in die Linke wechseln.
Er legte mir den Kupferdraht wie eine Schlinge um den Hals, sodass mir die Luft weg blieb. Abermals verfinsterte sich meine Sicht, doch ich rang verzweifelt darum bei Bewusstsein zu bleiben. Die Augen weit offen sah ich, wie er für einen Moment von mir abließ, um sich an einem Schalter an der Wand zu schaffen zu machen.
"Das wird jetzt ein ganz kleines bisschen weh tun", sagte er und legte ihn um.
Mit der Kraft eines Wahnsinnigen nahm ich mich ein letztes Mal zusammen und zog so stark an dem Draht, dass ich mich fast selbst stranguliert hätte. Im selben Moment hob ich meinen freien Arm mit dem Schlüssel und rammte ihn in das vor Überraschung aufblitzende Auge meines Peinigers. Der Strom floss durch meinen Körper und entlud sich geradewegs in den von Martin Duff.
Sein Körper, geschüttelt von Schockstößen, ließ die Schaltervorrichtung los und begann unkontrolliert zu zucken.
Als er sich noch krümmte und schüttelte, nutzte ich die Gelegenheit und löste mich von meiner Fessel, keinen Moment zu früh, ehe Mr. Duff zu Boden ging.
In meiner Hand hielt ich noch immer den silbernen Schlüssel. Geschockt schaute ich auf die Folgen unseres tödlichen Handgemenges, starrte auf den sich noch bewegenden Leichnam. Mir wurde übel. Mein Körper hatte sich von dieser Tortur noch nicht erholt. Ich spürte wie meine Knie leicht wurden und vorn überkippten. Sollte ich etwa an der Spitze der Spule gepfählt dasselbe unrühmliche Schicksal zu erleiden haben, dem ich noch Sekunden zuvor so tolldreist von der Schippe gesprungen war?
Eine helfende Hand packte mich am Schlafittchen und verhinderte meinen Sturz.
Mortha stand auf einmal hinter mir. Ihr schwarzes Kleid, dass sie sich sonst immer bis oben hin zugeknöpft hatte, stand nun eine Kragenweite breit offen. Weit genug, als das ich an ihrem schlanken Hals mehrere Linien ausmachen konnten, die ihre Haut durchschnitten.
"Ich habe ihn getötet!" Ich wusste nicht, ob ich erschrocken oder erleichtert klingen sollte.
"Machen Sie sich deswegen keine Sorgen", entgegnete Sie. "Es ist, wie sie gesagt haben: Alles, was wir verloren haben, wird wieder zu uns zurückfinden."
Ich hielt mir die Hände vor den Mund. Hatte ich tatsächlich das grausige Credo dieser Stadt in mich aufgenommen? Aber ja, ich konnte es nun nicht länger leugnen. Ich selbst hatte geholfen, diese Schreckensspule in Gang zu setzen.
"Kommen Sie", sagte sie lakonisch. "Das Strandfest ist bereits in vollem Gange. Am Ufer warten schon alle auf..."
Bevor sie ausreden konnte hastete ich auch schon die eiserne Treppe hinunter. Bloß weg hier! Kaum hatte ich aber den Leuchtturm verlassen, musste ich auch schon abbremsen, konnte ich doch kaum die Hand vor Augen sehen. Die verschleierte Sicht verwandelte den schmalen Pier in ein unüberschaubares Hindernis und ich hatte meinen Stock in der Leuchtkammer vergessen.
Eine mit Schwimmhäuten besetzte Hand legte sich um die meine und lotste mich durch den weißen Äther uralter Träume. In ihm ertönte das leise Raunen geheimer Geschichten, die die niemals schweigen wollenden Wogen des Meeres an die Ufer trugen, untermalt von krachendem Donner und knisternden Blitzen.
Die gespenstischen Schwaden um uns herum begannen von der freien Energie zu leuchten wie Jahrmarktbudenbeleuchtung. Die Promenade mit all ihren Buden und Geschäften erleuchtete in neuem alten Glanz. Mr. Flinsbarry hatte wahrlich nicht zu viel versprochen. Das Spektakel übertraf in der Tat alles bisher dagewesene.
Je näher wir Elrich kamen, desto mehr klärte sich mein verschwommenes Blickfeld. Als wir uns bei den Ständen unterstellten, mussten wir durch knietiefes Wasser waten. Die Flut stieg auf ein bedrohliches Maß und drohte die Küste gänzlich für sich zu vereinnahmen.
Das Tosen der Wellen und Läuten der Glocke wurde jäh unterbrochen von einem ohrenbetäubenden Rauschen. Ich warf einen Blick zurück und sah, wie sich die Nebelbank hinter uns zu lichten begann. Der stählerne Bug eines Schiffes teilte die salzige See in zwei wie der Stoßzahn eines mythischen Ungeheuers, bewachsen mit Algen und kleinerem Meeresgetier. Intuitiv wusste ich, um welches Schiff es sich handeln musste.
Bemannt wurde sein Deck von monsterhaften Erscheinungen. Nur dieses mal, waren sie alles andere als bloße Schemen meiner Vorstellungskraft. Veränderte Wesen von amorpher Gestalt, mit Schwimmhäuten an Händen und Füßen und Kiemen an ihren Hälsen.
"Kommen Sie, kommen Sie", hörte ich eine mir nur allzu vertraute Stimme rufen. "Die Festlichkeiten haben begonnen. Alle Besucher werden gebeten sich an der Uferpromenade einzufinden."
Und so trat Mr. Flinsbarry hinzu. Wie es sich für ihn gehörte, hatte er es sich in der ersten Reihe bequem gemacht. Mit Fliege und Sonntagshut schlafenzelte er mal hierhin mal dahin und strahlte dabei von einem Ohr zum anderen mit einem Lächeln weißer als weiß.
"Genießen Sie die Vorstellung?", fragte ich ihn, bemüht das Zittern in meiner Stimme so gut es ging zu unterdrücken.
"Aber ja doch, ja doch. Die Spezialeffekte sind ihrer Zeit weit voraus und die Darsteller spielen ihre Rolle allesamt formidabel."
Mit dieser Meinung stand er nicht alleine da. Der Bügermeister schritt voran und hieß die Besatzung freudestrahlend willkommen in Elrich. Dabei schwatzte und gestikulierte er wie ein Mann, der zwanzig Jahre jünger war.
Die Fitzgeralds indes begnügten sich mit den billigen Plätzen und beobachteten das Geschehen stumm von der Seite. Das gesamte katalytische Kuriositätenkabinett hatte sich aus dem Hotel der verlorenen Seelen zusammengefunden, um dem phantasmagorischen Jahrmarkt beizuwohnen.
Selbstredend ließ es sich Mr. Flinybarry bei dieser Gelegenheit nicht nehmen vor versammelter Mannschaft noch einen aller letzten Trick zu performen. Mit zurückgelehntem Kopf, den Nacken fast vollständig durchgestreckt, schob er sich einem Schwertschlucker gleich seinen Gehstock in den weit aufgerissenen Rachen. Seine strahlend weißen Zähne schlossen sich um den gebogenen Griff, so als hätte es ihn nie gegeben.
Ohne weiteres Trara schritt er sodann von der Bühne und ließ uns zurück. Keine Verbeugung, kein Applaus, keine letzten Worte gefolgt von stehenden Ovationen. Nur ein Vorhang, der fiel.
Lediglich Mortha Higgins senkte andächtig ihren Kopf zu Abschied.
"Danke, Flinbert", mit diesen Worten zog sie ihren Schleier von Gesicht und wandte ihr schuppiges Antlitz mir zu: "Kommen sie. Wir laufen mit der Flut aus."
Sie führte mich eine schmale Planke hinauf an Bord des riesigen Schiffes. Meine Füße folgten ihr wie von selbst. Ich wehrte mich nicht länger gegen den hereinbrechenden Irrsinn sondern ergab mich meinem Schicksal.
Als ich mich noch ein letztes Mal umdrehte sah ich, wie sie mir zuwinkten: Der greise Dr. Tymbold, die Eheleute Fitzgerald, die Arm in Arm nebeneinander standen, und sogar der rüpelhafte Mr. Duff. Sie alle warteten am Pier, als das Wasser langsam höher stieg.
Aber sie waren nicht mehr dieselben wie zuvor. Das widernatürliche Glimmen, das die Stadt erhellte, hatte bereits Einzug in ihre Organismen gehalten. Und dasselbe galt auch für mich. Ich hatte mich verloren. Mein ganzes Leben lang. Ich wusste schon gar nicht mehr, wann es angefangen hatte. Im Lichtspielhaus, der Nervenheilanstalt, auf der Weltausstellung, im Studium, vor dem Ohrensessel meines Großvaters oder vielleicht sogar noch viel früher. Aber eines wusste ich: Sobald die See mich überschwemmen würde und mein Körper anfinge sich zu transformieren, würde ich wieder vollständig.
Dann brach die Flut vollständig über das Ufer. Ich beugte mich über die Reling des ablegenden Schiffes und warf einen letzten Blick auf die ursprünglichen Bewohner von Elrich, die unter mir vorbeizogen. Ihre Körper wurden wie Marionetten von der Strömung vor sich hergetrieben. Die See war wahrlich voller Leben und schrecklich in ihrer Schönheit, die nur noch von ihrer totbringenden Gnadenlosigkeit übertroffen wurde.
An mir vorbeitreibend konnte ich den Sonntagshut von Mr. Flinsbarry entdecken. Ich streckte meinen Arm nach ihm aus, doch die Wellen trugen ihn hinfort. Mortha hielt während all dem meine andere Hand, bereit mir in den wässrigen Abgrund, auf den wir zusteuerten, zu folgen.
"Haben Sie keine Angst. Es wird auch nicht wehtun."
Ein letztes Mal brandeten die stürmischen Wellen gegen den Bug. Ein letztes Mal bäumte sich das Schiff auf, ehe es sank. Ein letztes Mal sah ich die Gesichter der Besucher von Elrich an mir vorbeiziehen und wie sie mit samt ihren Sorgen in den stygischen Fluten des Meeres versanken.
Die Geisterstadt und ihre besessenen Bewohner. Der entsetzliche Mr. Flinsbarry, der militärische Nebel, die Fischmenschen. Das alles wart nach jenem Tag nicht mehr gesehen.
Nur mehr die Gerüchte hielten sich wie Treibgut über Wasser. Nach dem Untergang von Elrich wurde der Ort zu einer Touristenattraktion, beworben von nebulösen Berichten, deren Geschichte anreisende Besucher gleichermaßen entzückte wie entsetzte.
Ende
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