Einem Festumzug gleich durchdrang der Nebel die Straßen von Elrich. Das Klicken und Klacken von Mr. Flinsbarrys Gehstock begleitete mich bei jedem meiner Schritte. Dank seiner war es mir möglich den vor mir liegenden Weg in dieser von Gott verlassenen Stadt zu ertasten.
Ich machte mir jedoch nicht allzu große Sorgen verloren zu gehen. Je dichter es wurde, desto näher kam ich der Küste. Und so wankte ich dem grellgelben Auge auf der Spitze des monolithischen Bauwerks entgegen. Auch wenn das Licht schon seit Jahren nicht mehr in Betrieb genommen worden war, so konnte ich es dennoch deutlich in meiner Vorstellung erblicken.
An den Piers angekommen schob sich schlussendlich eine sonderbare, dunkle Silhouette durch die dichten Schwaden in mein Blickfeld. Der Leuchtturm!
Auch in heruntergekommenem Zustand hieß das achteckige Stahlfachwerk alle, die vor und nach ihm kamen, sich vor ihm zu verneigen. Wie ein moderner Tempel ragte er umgeben von kryptischem Dunst über die uralten Dächer von Elrich empor. Einzig die schroffen Felswände schwindelerregender Klippen hinter ihm, stellten ihn in den Schatten.
Ich schritt am Ufer entlang auf ihn zu und inspizierte beiläufig das angeschwemmte Treibgut, das meinen Pfad pflasterte. Tote Vögel und tangumwobene Frackteile kündeten von einer reichen Ernte dieses Jahr. Das Fest hatte bereits begonnen.
Mit zitternden Fingern schob ich den silbernen Schlüssel in die gusseiserne Leuchtturmtür. Mit einem markerschütterndem Quietschen, das einen schlafenden Gott auf dem Grunde des Meeres hätte wecken können, schwang sie zur Seite. Hals über Kopf hastete ich die Stufen der Wendeltreppe hinauf. Was auch immer mich an seiner Spitze erwarten mochte, ich wusste, dass es die Antwort auf all meine Fragen wäre.
Oben angekommen hielt ich noch einen Moment inne, ehe ich den rostigen Türknauf zum Lampenhaus betätigte, hadernd, ob ich es denn wirklich tun sollte. War es das Geheimnis von Elrich tatsächlich wert gelüftet zu werden? Es gab Schrecknisse auf dieser Welt, die den menschlichen Geist bei dem Versuch sie zu erfassen an die Schwelle des Wahnsinns führten. Ich trat ein.
Was auch immer ich erwartet hatte, das war es nicht. Die Technik, die ich erblickte, schien mir viel zu fortschrittlich für ein solch altes Gebäude. Das Innere der Laterne musste von den verschiedenen Maschinisten, die über die Jahre hinweg die Stadt besucht hatten, mehrmals umgebaut worden sein.
Doch anstelle einer Fresnelschen Stufenlinse fand ich das Zentrum des Raumes verweist vor. Statt ihrer erwartete mich lediglich eine verdrahtete Halterung, in deren Mitte ein gähnendes Loch klaffte. Was hatte das nur zu bedeuten? Ein Leuchtturm ohne Leuchte, eine Stadt ohne Einwohner, ein Rätsel ohne Lösung... Die Merkwürdigkeiten wollten einfach nicht abreißen.
Was, so fragte ich mich, wäre wenn der einstige Leuchtturm schon vor langer Zeit seines ursprünglichen Zweckes entfremdet geworden war? Mir blieb jedoch keine Zeit weiter über diese Möglichkeit nachzudenken. Dumpfes Gepolter in meinem Rücken kündete einen Verfolger an.
Ich hatte es zu spät realisiert und keine Möglichkeit mich zu verstecken. Als ich mich umdrehte, schaute ich geradewegs in ein breites Gesicht, das von einem feuerroten Schnauzbart geziert wurde, wie es durch das Bullaugenfenster der Tür lugte. Es war das unverwechselbare Profil von Mr. Duff, der einen Moment später auch schon auf der Schwelle stand, in den Händen sein Koffer, von dem ich wusste, dass er eine rätselhafte Apparatur beherbergte.
Noch als er eintrat, begann ich mein Gewicht zu verlagern, in der Hoffnung, es würde ihm nicht auffallen. Wenn ich nur eine Gelegenheit hätte, so könnte ich ihm in einem unbedachten Moment, überraschen, so hoffte ich.
Er mochte größer und stärker als ich sein und aus seinem stieren Blick, starrte der Wahnsinn, welcher ihn nun vollständig beherrschte. Aber bei mir trug ich noch immer den Schlüssel, welchen ich mir als Stichwaffe zu Nutze machen konnte!
Wie von selbst wanderten meine Finger zu der Hosentasche und tasteten nach dem kühlen Stück Metall. Das nächste, was ich spürte, waren jedoch die unnachgiebigen Knöchel von Mr. Duffs Faust, die mich direkt ins Gesicht trafen. Mit einem überlegenen Grinsen hatte er mir einen aufrechten Haken verpasst, der mich prompt zu Boden beförderte.
Halb ausgeknockt lag ich an die Wand gelehnt da, unfähig auch nur einen Finger zu krümmen. Unterdessen drang wie aus weiter Ferne an mein Ohr, dass sich jemand an der Technik der Kammer zu schaffen machte.
Wie lange ich so vor mich hin dämmerte, wusste ich nicht. Aber als mein Sichtfeld sich wieder zu klären begann, erkannte ich, wie Mr. Duff dabei war seine seltsame Spule im Zentrum des Raums zu verdrahten.
Bisher war er mir immer als ein Mann erschienen, der lediglich in den rohen Pragmatismus der Dinge investiert war. Ergab er sich doch in jeder seiner Handlungen in Hast und Erregung. Umso erstaunlicher fand ich es, mit welcher Finesse und präzisen Handbewegungen er die Apparatur wieder in Gang setzte. Eine solch zielgerichtete Konzentration hätte ich ihm nie und nimmer zugetraut. In seinen Augen brannte dabei eben jener fanatische Glanz, den ich bei ihm schon im Hotel beobachten konnte.
Ich tastete mir über das geschwollene Gesicht und erspürte wie etwas Nasses mein Kinn hinunterlief.
"Was tun Sie da?", fragte ich, vergeblich versuchend mich aufzusetzen.
"Ich bringe zu Ende, wozu Ihnen die Entschlossenheit gefehlt hat", murmelte er mir den Rücken zuwendend. "Einst war ich ein angesehener Ingenieur, der sogar ein Unternehmen sein Eigen nennen konnte. Ich war jemand! Ich und meine Mitarbeiter wurden mit den Arbeiten an einem Projekt nie gekannten Ausmaßes am nördlichen Küstenstreifen von Road Island engagiert. Elektrische Energie, die drahtlos übertragen werden kann. Denken Sie doch nur daran, was das bedeutet! Doch noch ehe wir unser Vorhaben vollenden konnten, wurden uns die Mittel gestrichen. Nicht lange darauf hieß es, der Bau würde abgebrochen. Können Sie das fassen?!"
War es das, worum es hier die ganze Zeit ging? Eine neue Erfindung für eine erneute Weltausstellung, um den Fortschritt der menschlichen Zivilisation zu zelebrieren?
"Aber was hat das mit mir zu tun?", verlangte ich zu wissen.
"Sie? Sie waren nur dazu gut mir die Tür zu öffnen. Ich brauche Sie jetzt nicht mehr."
Mr. Duff stand auf und rieb sich die fleckigen Hände. Beinahe schon zuneigungsvoll strich er über die einzelnen Kabel und Verdrahtungen.
"Fast fertig. Das Signal wird sie zu uns führen."
Die Spule umwickelt von kupfernem Draht war nun an einer Vorrichtung mittig angebracht. Von einer solchen Linse, hatte ich noch nie gehört. Wie mochte sie bloß funktionieren, wenn es denn eine war?
"Ein Signal?", fragte ich vollkommen verdattert.
"Haben Sie es denn noch immer nicht verstanden!? Es war das Licht, schon die ganze Zeit! Sie fürchten es und sie brauchen es. Ihre... nein, unsere Evolution hat sich im Kreis gedreht. Was meinen Sie, sollen wir sie aus ihren verborgenen Tiefen empor rufen?"
Ich nickte. Mit gespielter Gelassenheit, versuchte ich Zeit zu schinden: "Wunderbar, wunderbar. Da haben Sie wirklich einen beeindruckenden Apparat konzipiert."
"Oh, ich war nicht allein. Die technische Evolution hatte schon lange vor meiner Zeit begonnen. Ich bin lediglich ein Baustein in einer langen Kette von Versuchen und Fehlschlägen, um sie zu vollenden. Elrich hat schon immer Andersdenkende angelockt. Es muss etwas mit der besonderen Physiognomie dieses Ortes zu tun haben, die einen abstrakten Verstand wie den meinen fördert. Leistungsfähige Geister wie Sie und ich haben hier die Möglichkeit, unsere Versuche abseits der Ignoranz der tumben Mehrheitsgesellschaft ungestört umzusetzen."
Was redete dieser Spinner da eigentlich? Hätte ich noch einen Beweis gebraucht, so war ich nun endgültig davon überzeugt, das ich nicht länger einen vernunftbegabten Menschen vor mir hatte.
"Aber ja doch, ja doch. Ich kann es kaum abwarten einem Genie wie dem Ihren Zeuge zu werden."
"Ich fürchte so einfach ich das nicht. Sie haben sich als zu wechselhaft erwiesen. Ich kann kein Risiko eingehen, nicht nachdem ich schon soweit gekommen bin."
Er wandte sich nun wieder mir zu. Seine Zunge leckte über den ungepflegten Schnauzbart.
"Ich werde die Maschinerie nun in Gang setzen und Sie werden der Erste sein, der die Transformation am eigenen Leib erfahren darf."
Mit schweren Schritten kam er auf mich zu. Ich wand mich nach Leibeskräften, doch noch immer schaffte ich es nicht, auf die Beine zu kommen.
Seine Worte klangen genau wie die des verrückten Dr. Tymbolds. Vielleicht hatte er ja recht und es war wirklich der Fluch von Elrich, der die Leute verrückt machte. Oder waren es am Ende seine Besucher, die den Schrecken mitbrachten? Aber was machte das jetzt noch für einen Unterschied? Es mochte an meinem noch immer dröhnenden Schädel liegen, doch ich meinte, von unten her das Läuten einer Nebelglocke hören zu können. Das Treibgut wurde nach Hause gerufen. Mein letztes Stündlein hatte geschlagen.