Als meine Schritte mich an der Rezeption vorbeiführten, beschloss ich kurzerhand mir die Ersatzschlüssel unter dem Dresen auszuleihen. Ich würde schon noch herausfinden, was Mr. Flinsbarry zu verbergen hatte!
Doch noch ehe ich die Treppe hinauf zu den Gästezimmern stieg, wurde mir gewahr, dass ich gar nicht wusste, wo er denn überhaupt untergebracht war. Kurz entschlossen, entschied ich mich dazu jede Etage einzeln abzusuchen. Es mochte riskant sein, aber was hatte ich für eine andere Wahl?
Als erstes nahm ich den Raum direkt unter meinem in Angriff. Er war unaufgeräumt und viele der Einrichtungsgegenstände sahen arg lädiert aus. Die Stehlampe neben dem Bett hatte jemand scheinbar im Zorn umgestoßen. Neben dem Schrank sah ich einen schweren Koffer stehen. Wenn mich mein Erinnerungsvermögen nicht trog, so gehörte er Mr. Duff.
Ich war schon den halben Weg zur Tür raus, als mich die Neugier packte und ich beschloss einen Blick zu riskieren. Zu meiner Verwunderung, fanden sich im Inneren des Gepäckstücks technische Apparaturen und diverses Werkzeug.
Alleine die Vorstellung, dass ein so grobschlächtiger Mann wie er damit umzugehen wusste, warf bei mir einige Fragen auf. Nicht zuletzt die, warum er derlei Gegenstände überhaupt mit sich führte, noch dazu an einen Ort wie diesen?
Probehalber griff ich nach dem darin befindlichen Zylinder, um den sich ein kupferner Draht wie eine Spule wickelte. Etwas sagte mir, dass es sich bei diesem Konstrukt mit Nichten um eine extravagante Jahrmarktbudenbeleuchtung handelte.
Ich verstaute meinen Fund zurück in den Koffer, wie ich ihn vorgefunden hatte. Es war nicht das erste Mal, dass ich so etwas in der Hand erblickt hatte. Die Weltausstellung kam mir wieder in den Sinn in Verbindung mit all den grausigen Schauexperimenten, derer ich Zeuge wurde, unter der sinisteren Leitung von Nicola Tesla.
Da dämmerte mir auch, wann ich den Namen Martin Duff schon einmal vernommen hatte. Seit unserer allerersten Nacht im Hotel, als ich ihn auf den offenen Seiten des Gästebuchs gelesen hatte, ließ mich diese Frage nicht los.
Der Ingenieur und Unternehmer Martin Duff hatte Anfang der Jahrhundertwende sein gesamtes Vermögen in neue Erfindungen investiert. Die Zeitungen waren seinerzeit voll davon. Die Rendite sollte sich jedoch aufgrund des Aktienkollaps von 1907 nie auszahlen. Viele Gesellschaften gingen in den Folgemonaten und Jahren pleite, darunter auch die von Mr. Duff.
Doch um weiter darüber nachzusinnen, was einen Mann wie ihn wohl an einen Ort wie diesen Verschlagen hatte, blieb keine Zeit. Eilig räumte ich den Koffer zurück neben den Schrank und machte mich aus dem Staub. Dann sah ich mich noch in den anderen Zimmern um, aber außer einem Bad und einer Abstellkammer, entdeckte ich nichts. Auch im ersten Stock fand ich keine Spur von Mr. Flinsbarrys Unterbringung.
Bei meiner Visite im ersten Stock bemerkte ich, dass das Zimmer der Fitzgeralds nicht abgeschlossen war, und entschloss mich kurzerhand, einen Blick zu riskieren. Neugierig, was wohl der bedauernswerte Adam Fitzgerald, gesehen haben mochte, ehe seine liebende Ehefrau so gut war, ihm das Licht auszublasen, beugte ich mich über seinen Schreibtisch. Was ich dort vorfand, sollte meine wildesten Erwartungen bei weitem übertreffen.
Auf der Tischplatte verstreut fand ich eine beeindruckende Kollektion von Zeitungsartikeln vor, die allem Anschein nach mehrheitlich unter dem Pseudonym T. A. Fitzgerald verfasst worden waren.
Einer von Ihnen berichtete über das Bauvorhaben eines Elektroingenieurs bei Shoreham. Ein anderer hatte die Weltausstellung von Chicago zum Thema. "Verrückter Mann mitten in der Luft", lautete die Überschrift. Meine Augen flogen über ein Interview, das von dem Besucher eines Riesenrads handelte, der in seinem Wahn von den schwindelerregenden Höhen versucht hatte sich während der Fahrt in den Tod zu stürzen.
In einer anderen Sparte fand auch der berüchtigte Glühbirnenturm Erwähnung. Eben jenes monolithische Lichtgebilde, dessen Glanz mich beinahe um den Verstand gebracht hätte.
Ich blätterte mich weiter durch die knittrigen Seiten und mit jedem Artikel kamen immer neue Zusammenhänge ans Licht. Allem Anschein nach zeichnete sich für die Beleuchtung der Weltausstellung derselbe Konzern aus, für den auch schon Mr. Duff dieser Tage tätig gewesen war.
Und nun, wie das Schicksal es so wollte, waren wir alle hier versammelt, beinahe als hätte es jemand von langer Hand geplant. Trisha und Adam Fitzgerald, Martin Duff und ich. Unsere Geschichten schienen miteinander verbunden zu sein. Aber wie nur mochte Flinbert Flinsbarry in dieses Bild passen?
Ich legte nun auch die letzte Seite um und erblickte eben jene Anzeige, die mich selbst in das verschlagene Elrich gelockt hatte. Bedächtig ging ich all die verschiedenen Ereignisse durch. Bedächtig ging ich all die Ereignisse durch, die mich an diesen trostlosen Ort verschlagen hatten. Jedes noch so kleine, schauderhafte Detail, das meine Seele verfinsterte und mir den Atem stocken ließ. Angeblich, so sagte man, zog auch bei einem Ertrinkenden das ganze Leben wie ein Traum an einem vorbei, ehe ihn im dunklen Nass der ewige Schlaf willkommen hieß.
Ich machte mich auf und suchte weiter. Doch auch hier keine Spur von Mr. Flinsbarry. Wo mochte er bloß schlafen, wenn er denn überhaupt schlief?
Kurz überlegte ich, was ich als nächstes tun sollte. Es gab nur einen Raum, indem ich noch nicht gesucht hatte. Im Erdgeschoss, auf dem sich der Speisesaal mit angrenzender Küche, der Gesellschaftsraum, die Lobby... und natürlich die Räumlichkeiten hinter der Lobby befanden, in denen Mortha Higgins logierte.
Ich spitzte meine Ohren. Aus dem Gesellschaftsraum kam kein Muchs mehr. Vermutlich bereitete Sie gerade das Abendessen vor. Und wenngleich es mir nicht behagte, ihre Privatsphäre zu stören, schluckte ich meine Zweifel hinunter und begab mich hinter die Rezeption.
Vorsorglich hatte ich die Öllampe mitgenommen. Ich musste nicht lange suchen. Der Schein der Flamme vertrieb die Schatten an den Wänden bis in die hintersten Ecken. So etwas wie einen Koffer suchte ich allerdings vergeblich.
Was ich aber in dem flackernden Licht erblickte, war eine mir nur allzu gut vertraute Garnitur bestehend aus Hosenträger, Gürtel und gestreiftem Hemd, ordentlich zusammengelegt auf dem frischgespannten Bettlaken. Sein Spazierstock lehnte direkt neben der Tür.
Ich tat einen Schritt zurück und stolperte fast über ein paar auf Hochglanz polierter Steppschuhe. Also hatte sich selbst die freundliche Mortha Higgins auf einen Pakt mit diesem Satan mit Sonntagshut eingelassen!
Um nicht zu stürzen, griff ich blind um mich. Dabei verhedderten sich meine nach Hilfe suchenden Finger in den Stoff der sich allmählich zersetzenden Tapete. Als diese jedoch unter meinem sanften Druck abglitt wie das Schuppenkleid einer sich häutenden Schlange, wart es mir gewahr, dass es sich bei ihr nicht etwa um eine schnöde Wandverkleidung sondern ein Vorhang handeln musste!
Scheinbar verfügte der Raum doch über ein Fenster. Und nicht nur das! Vor eben jenem Fenster, das einen ausladenden Blick auf Straße zuließ, war ein schmaler Projektor in Position gebracht worden. Genau so einer wie jener, der auch im Lichtspielhaus seine grotesken Bilder an die Wand geworfen hatte. Ich warf den Apparat an und beobachtete voller Entsetzen, wie die schleierhaften Spuckgestalten aus meinen Alpträumen auf der Nebelbank hinter dem Fenster an Form gewannen.
Soviel also zu dem verfluchten Nebel und den widernatürlichen Experimenten, deren Schemen sich wie ein fernes Echo in seinen Schwaden abzeichneten. Alles nichts als billige Zaubertricks, hervorgerufen von Kohlebogenlampe und Handkurbel. Keine Sekunde lang zweifelte ich daran, wer für diese Ungeheuerlichkeit Verantwortung zeichnete, ebenso wenig, dass ich nicht der einzige war, der mit diesen fabrizierten Zelluloidschrecken um den Verstand gebracht werden sollte.
Fassungslos wandte ich meinen Blick ab, unfähig das Gesehene in seiner schrecklichen Gänze zu begreifen. Meine überreizten Augen wanderten ziellos um her und blieben schließlich auf dem Ölgemälde über dem Fußende des Bettes hängen, das sich mir nun in all seiner grausigen Pracht vor mir offenbarte.
Es zeigte eine Szenerie von einem sinkenden Schiff vor einer stürmischen Küste. Sein titanischer Untergang wurde beschienen von einem Leuchtturm, der am Fuße der Klippen thronte. Die Fresnellinse auf seiner Spitze schien mich mit einem grellgelben Licht direkt anzustrahlen. Vor meinem inneren Auge fügte sich auf einmal alles zusammen. Der Monolith aus Licht, der Funkturm und jetzt das! Sie alle verschmolzen zu einem.
Auf einmal ergaben Mr. Flinsbarrys Worte einen Sinn. Was wir einst verloren haben, würde wieder zu uns zurückfinden. Wie Treibgut aneinander geschwemmt...
Jetzt wusste ich, wo ich hin musste, um den silbernen Schlüssel seinem Schloss und dem Rätsel um Elrich seiner Lösung zuzuführen. Vorsorglich nahm ich noch Flinsbarrys Stock an mich. Ich wusste schon, wofür ich ihn gebrauchen konnte.
Ohne auch nur einen weiteren Gedanken das Hotel und dessen grässliche Bewohner zu verschwenden, machte ich mich dann auf und verließ das alte Kolonialhaus für immer. Meine Schritte in der hereinbrechenden Abenddämmerung gen Küste gerichtet.
Mir war nicht gewahr, dass mir jemand folgte.