Ein Gutes musste ich meinem Besuch in Elrich zugestehen: Die Albträume waren verschwunden. Nicht länger wurden meine unruhigen Nächte heimgesucht von den Geistern der Vergangenheit. Nicht länger schlief ich unter dem drohend baumelnden Schwert des Damokles über meinem Kopf... denn ich schlief überhaupt nicht mehr. Zu lebendig war meine Erinnerung an das, was sich in eben diesen Wänden zugetragen hat.
So starrte ich also unaufhörlich an die gewölbte Decke meines Mansardenzimmers, unfähig auch nur ein Auge zuzudrücken. Wartend auf das Unvermeidliche. Seit meiner Widerankunft im Hotel hatte ich intensiv nachgedacht. Mein Koffer lag gepackt und verschnürt unterm Bett. Ich selbst ruhte voll angezogen auf der harten Matratze.
Ich wusste, was ich zu tun hatte, aber nicht, wie ich es am besten anstellen sollte. Das Strandfest stand unmittelbar bevor und ein Entkommen war ausgeschlossen. Diesen Umstand verdankte ich selbstredend keinem geringeren als Flinbert Flinsbarry. Mit seinen aberwitzigen Geschichten und versteckten Anweisungen hatte er uns alle geschickt in die Irre geführt.
Jedoch war ich meinem Gastgeber nun erstmalig einen Schritt voraus. Denn ich hatte etwas in meinen Besitz gebracht, das von äußerster Wichtigkeit für seine Pläne zu sein schien: Den silbernen Schlüssel, den mir Dr. Tymbold anvertraut hatte.
Was auch immer er damit vorhaben mochte, musste wertvoll genug für ihn sein, als dass er sich freiwillig in den Dienst dieser elenden Stadt gestellt hatte, nur um dessen habhaft zu werden.
Möglicherweise, so vermutete ich, öffnete er ja etwas, das Mr. Flinsbarry bei sich trug. Einen Koffer etwa oder aber vielleicht eine Kiste? Etwas, was er verloren hatte und nun wiedererlangen zu versuchte? Aber was immer es auch auch sein mochte, ich musste Bedacht vorgehen, um ihm zuvorzukommen.
Unversehens riss mich ein metallisches Klopfen an die Zimmertür aus meinen Gedanken. Vorsichtig öffnete ich sie, nur einen Spalt breit, doch das reichte bereits, um es der Person zu gestatten einen Fuß in die Tür zu setzen.
Ein eiserner Schürhaken bohrte sich in den Rahmen meiner Tür und hebelte sie auf, sodass es nunmehr keinerlei Barriere zwischen mir und demjenigen gab, der sich angeschickt hatte, mir einen Überraschungsbesuch abzustatten.
Es war Mrs. Fitzgerald, die gekommen war, um mich nach unten zu beordern. Dass sie seit jener ereignisreichen Nacht, noch immer ihre Mordwaffe mit sich führte, hinterfragte ich nicht. Stattdessen folgte ich ihr ohne Widerworte zu leisten. Die Portraits an den Wänden der Älteren von Elrich bedachten mich im Vorbeigehen mit unergründlichen Blicken.
Mr. Flinsbarry hatte uns zur Mittagsstunde im Unterhaltungszimmer des Hotels zu einem sogenannten Zehn-in-Eins geladen, als Vorprogramm für das morgige Fest. Der elegant eingerichtete Raum stand gegenüber des Speisesaals auf der anderen Seite der Lobby.
Wie der Rest der alten Kolonialvilla war auch dieser Raum von einer tiefen Tristesse erfüllt, deren Schwermut unweigerlich auf jeden abfärbte, der sich länger in ihm aufhielt. Kaum verwunderlich also, dass eine Stimmung wie bei einer Beerdigung herrschte, nur dass bei einer Beerdigung die Leiche für gewöhnlich nicht mit am Tisch saß. Mr. Fitzgerald lehnte mehr, als das er saß, auf den mit rotem Samt ausgekleideten Polstern des Kanapees.
Den Sessel neben ihm hatte Mr. Duff in Beschlag genommen, den Blick unaufhörlich auf den Kronleuchter über unseren Köpfen gerichtet.
Mortha war gerade dabei uns Teegebäck zu servieren, mit welchem, kaum hatte sie es aufgetragen, Mr. Flinsbarry auch schon zu jonglieren begann. Die gesamte Freakshow war versammelt und ich saß mitten unter ihnen.
Nachdem dann schlussendlich alle Platz genommen hatten, zauberte er einen Stapel Spielkarten aus dem Ärmel. Keiner von uns zeigte sich davon sonderlich beeindruckt. Es waren sogar noch die Fäden zu sehen, an denen er sie befestigt hatte.
Anschließend wurden die Karten gemischt und an die Spieler im Uhrzeigersinn verteilt. Wir spielten die Eisenbahn-Euchre, was hieß, dass wir uns in zwei Gruppen mit je zwei Spielern aufteilen sollten. Mortha und ich wurden als Partner zugeteilt, ebenso Mr. Duff und Mrs. Fitzgerald, die für ihren Mann einstieg, welcher sich aus selbstverständlichen Gründen zurückzog. Die Teams sammelten Punkte, indem sie sich gegenseitig Karten zuspielten, um einen Stich zu setzen.
Wir trugen ein paar Runden aus, hielten dabei aber lediglich eine Fassade aufrecht. Keiner von uns konzentrierte sich wirklich auf die Karten.
"Ein bemerkenswertes Spiel mit einer nicht minder bemerkenswerten Geschichte", schnitt Mr. Flinsbarry an, der sich mit der Funktion des Kartengebers begnügte. "Wussten Sie, dass es sich durch Seefahrer über die Grenzen Nordamerikas verbreitet hat?"
"Wie so vieles", flüsterte Mortha.
"Ersparen Sie uns die Geschichtsstunde und spielen Sie, Mr. Flinsbarry!", erwiderte Mr. Duff mit abschätzigem Blick auf seinen Gegenüber.
"Es gilt außerdem als das erste Kartenspiel, indem der Joker den höchsten Wert inne hat", fuhr dieser ungerührt fort.
"Nehmen, Sie", raunte ich Mortha hinter vorgehaltener Hand zu und übergab ihr meinen Trumpf.
"Was haben Sie da Ms. Higgins zugesteckt!?", forderte Mr. Duff zu wissen.
"Ich passe."
"Wunderbar, und ich nehme das Spiel auf!"
"Sie missverstehen", korrigierte ich ihn. "Ich werde Ihnen meine Hand nicht offen legen."
"Dann verlangen Sie auf?", fragte Mrs. Fitzgerald nun ihrerseits irritiert.
"Ich schiebe zu."
Und so strichen quälend die Stunden dahin und es dämmerte mir, dass ich so nicht weiterkommen würde. Es wurde allmählich Zeit diesen grauenhaften Zirkus mit einem Blowoff zu verlassen!
Als könnte er meine Gedanken lesen, wandte sich Mr. Flinsbarry die Hände in die Hosenträger gelehnt nun abermals an mich: "Haben Sie denn schon eine Strategie?"
Ich hätte wissen müssen, dass er mich durchschaute. Er schien ein geradezu morbides Interesse an meinem Unbehagen zu verfolgen. Doch noch ehe ich Antwort geben konnte, wurden wir rüde unterbrochen.
"Genug davon", zischte Mr. Duff und legte seine Karten auf den Tisch. "Warum verschwenden wir hiermit unsere Zeit? Das Fest bricht bald an und die Vorbereitungen sind noch nicht abgeschlossen!"
Ich horchte auf. Was hatte das zu bedeuten? Seit wann war Mr. Duff derart in die Vorbereitung des Strandfestes investiert?
"Geduld, Geduld", entgegnete Mr. Flinsbarry. "Bitte glauben Sie mir, wenn ich Ihnen versichere, dass das anstehende Spektakel alles bisher dagewesene bei weitem übertreffen wird. Und dank unserer über alles geschätzten Mrs. Fitzgerald werden auch die umliegenden Ortschaften von unserem kleinen Event in Kenntnis gesetzt."
"Es wurde immer schlimmer mit ihm und ich wusste nicht, wie ich mit der Situation sonst hätte umgehen sollen", murmelte diese, das Gesicht in den den Händen vergraben.
Ich nickte. Sehr zu meinem eigenen Missfallen glaubte ich den Worten Mr. Flinsbarrys. Weit weniger überzeugt schien mir dagegen Mr. Duff. Dieses angespannte Verhalten meiner Mitspieler, würde ich eventuell zu meinem Vorteil ausnutzen können, wollte ich ein Solo wagen.
Ich riet meiner Partnerin mitzugehen, komme was da wolle, und schob ihr stets meine besten Karten zu, sodass sie Stich nach Stich für sich entschied. Und obgleich es mir in der Seele weh tat, die unbedarfte Mortha Higgins derart schändlich ausnutzen zu müssen, so wusste ich doch, dass ich keine andere Wahl hatte, wollte ich diese Partie für mich entscheiden.
Nachdem es dann endlich soweit war, ließ der erwartete Wutausbruch nicht lange auf sich warten.
Mr. Duff schmiss zornentbrannt den Tisch um. Herzen, Asse, Piken und Kreuze segelten auf den Teppich.
Sein unflätiges Gebaren führte dazu, dass Mrs. Fitzgerald sich kreischend an die Seite ihres Ehemanns flüchtete. Und als wäre das Chaos nicht schon komplett, sorgte Mr. Flinsbarry für noch mehr Aufregung, indem er einen seiner zweitklassigen Zaubertricks aufführte. Ich nutzte die Gelegenheit um aufzustehen und öffnete die Tür.
"Verschaffen Sie mir etwas Zeit.", wisperte ich Mortha noch ins Ohr, ehe ich das Gesellschaftszimmer verließ, begleitet von Gefluche und Gezeter auf meinem Weg durch die Hotellobby.