Würde der Nebel noch dichter, da war ich sicher, so würde ich mich in ihm zu einem jener Schemen auflösen, welche Elrich mit der Flut heimsuchten. Stolpernd durch das ätherische Weiß meinte ich ihre verschlungenen Konturen erkennen zu können.
Jene bedauernswerten Kreaturen, die unter der Leitung des wahnsinnigen Dr. Tymbold umgekommen waren. Ihre eisige Hände schnappten mit feuchten Fingern nach mir. Ich irrte weiter, um mich ihrem Griff zu entziehen, kalten Atem im Nacken spürend.
Die Vorkommnisse der letzten Tage ließen mich allmählich selbst an meinem Verstand zweifeln. Was von dem, was ich sah und hörte, war noch real und was Einbildung? Wann wachte ich? Wann träumte ich? Ich vermochte es nicht länger auseinander zu halten. Diese Stadt verwandelte sich zusehends in einen lebenden Alptraum.
Aber wohin sollte ich fliehen? Zum Hotel wollte ich unter keinen Umständen zurück gekrochen kommen. Der Bürgermeister!, ging es mir schlagartig durch den Kopf. Wenn jemand wusste, wie man aus diesem Höllenloch herauskam, dann er. Schließlich hatten mich meine Füße direkt vor die Schwelle des altertümlichen Rathauses getragen, dessen vergangene Pracht ich bereits bei unserer Führung bewundern durfte.
Ich klopfte gegen die nagelbeschlagene Tür, aber niemand öffnete mir. Kaum verwunderlich, zumal der Bürgermeister aller Wahrscheinlichkeit nach mit dem Zug ausgefahren war. Um sicher zu gehen, drückte ich gegen den schweren Eisenknauf und zu meiner Überraschung gab er nach.
Zögernd trat ich ein. Was sonst wäre mir auch übrig geblieben, wollte ich doch auf alle Fälle vermeiden auf den unüberschaubaren Straßen weiterhin ziellos umherzuirren?
Beim Reingehen stockte mir der Atem. Das Innere des Hauses wurde von einem feuchten Modergeruch durchzogen, der das Haus von innen heraus zu durchsetzen schien.
Bedächtig wand ich mich an der wurmstichigen Wandverkleidung entlang bis zu einer Garderobe. Dort hingen an Kleiderständern sauber aneinandergereiht die illustre Uniformsammlung des Bürgermeisters. Vom Kinoticketverkäufer bis zum Zeitungsausträger war alles vertreten. Lediglich ein Haken, den ich für seine Schaffnermontur vermutete, war leer.
Ich wandte mich ab und unterzog die übrigen Räumlichkeiten einer eingehenden Musterung. Ungeachtet des allgemein schlechten Zustandes war die Einrichtung an sich von herausragender Qualität. Das verwunderte mich, hatte ich doch erwartet, dass sie genauso vernachlässigt wie der Rest der Stadt sein würde.
Das Mobiliar hatte jedoch allen Widrigkeiten zu Trotz dem Zahn der Zeit und der alles durchdringenden Feuchtigkeit noch einigermaßen standgehalten. Die verschiedenen Apparaturen und feingearbeiteten Einrichtungsgegenstände ließen für mich auf einen intellektuellen Geist schließen. Jedoch zeigten auch sie über die Jahre Anzeichen von Verkommenheit an.
So füllten die Regale Bücher über Philosophie und Physik, deren altersschwache Einbände nur noch schwerlich auf ihren Inhalt verwiesen. Eine dicke Staubschicht ließ zudem darauf schließen, dass sie schon seit einer ganzen Weile niemand mehr gelesen hatte. Eine Schande!
Was allerdings mehr als alles andere mein Interesse weckte, war eine Fotogalerie, die Tische und Wände zierte. Eines der Bilder zeigte eine lachende Menschenmenge, die in die geradewegs Kamera schaute. Doch mit jedem weiteren, schwand die Anzahl der Abgebildeten und ihre Laune begann sich zu verfinstern. Alle Fotografien hatten jedoch eine Sache gemeinsam: In ihrer Mitte stand ein Mann von kleiner Statur und einer dicken Hornbrille, die seine Augen verbarg.
Ich meinte, in ihm eine jüngere Version des Bürgermeisters wiederzuerkennen, der mit jeder späteren Aufnahme seinem Pendant aus der Gegenwart ein Stückchen ähnlicher wurde. Doch warum nur trug er einen weißen Laborkittel?
Wie ich so in den dokumentierten Niedergang der Gemeinde versank, merkte ich nicht, wie sich mir jemand von hinten näherte.
"Mr. Flinsbarry" , fragte eine gebrechlich klingende Stimme, "sind Sie das?"
Erschrocken wandte ich mich um und blickte geradewegs in die starrgrauen Augen des Bürgermeisters.
Er war so nah, dass mir einen Moment der Atem stockte, ehe ich antworten konnte: "J-ja, Herr Bürgermeister. Ich bin es, ich bin es. Flinbert Flinsbarry, zu ihren Diensten."
Ich war mir nicht sicher, wie gut meine Darbietung ausfiel. Kurz entschlossen vollführte ich mit einem Schirm, den ich bei der Garderobe erspäht und zu meiner Verteidigung mitgenommen hatte, einen von Mr. Flinsbarrys klassischen Stockstricks. Der Bürgermeister zeigte daraufhin keine Reaktion. Scheinbar hatte ich also alles richtig gemacht.
Dann fiel mir mit einem Mal wieder ein, warum ich überhaupt hier war.
"Entschuldigen Sie, aber der Zug...", stieß ich an, wurde aber prompt abgewürgt.
"...hat sich erledigt, Mr. Flinsbarry. Ich habe mich darum gekümmert, wie Sie es von mir verlangt haben. In nächster Zeit wird kein Besucher Elrich betreten oder verlassen. Zumindest nicht auf diesem Wege."
Seine Worte ließen mich aufhorchen. Derart hilflos hatte ich mich nicht mehr gefühlt, seit ich Patient im Elgin Zentrum für mentale Gesundheit gewesen war. Und was mochte das eigentlich heißen "auf diesem Wege"? Gab es etwa noch einen anderen?
Mit müdem Blick ließ sich der Bürgermeister in einen nahestehenden Ohrensessel fallen, der ihn beinahe bis zur Gänze verschluckte. Erst jetzt, da er Jacke und Mantel abgenommen hatte, wurde mir erst richtig bewusst, um was für ein verhärmtes, winziges Männlein es sich bei ihm handelte.
Mit brüchiger Stimme begann er mir die ganze Geschichte zu erzählen. Es sprudelte wie selbstverständlich aus ihm heraus, ganz so, als ob wir diese und ähnliche Diskussionen schon dutzendfach zuvor miteinander geführt hätten.
Es war unklar, ob der chemische Horror die Männer und Frauen, die damals zu seiner Beseitigung ausgelaufen waren, verzerrte, oder die Katastrophe lediglich als ein Weckruf für einen weitaus älteren Schrecken gedient haben mochte. Vielleicht aber auch beschrieben beide Mythen nur ein und dieselbe Wahrheit, die tief in unseren Genen verschlüsselt lag.
"Das menschliche Leben", so führte er in sonorem Tonfall weiter aus, "beginnt, so wie jedes andere auch, im Wasser. Es ist nur logisch, dass wir zu unserer Quelle zurückkehren, wollen wir uns weiterentwickeln. Um etwas zu verstehen, muss man zu aller erst seine Ursache begreifen. Was denn auch sonst? Die Lösung war das Wasser, jene allumfassende Ursubstanz, die das Leben selbst aufzulösen und neu ordnen vermag. Möglicherweise hatten ja auch jene Seeleute, denen wir diese unsägliche Aufgabe auferlegt hatten, gehofft, das Meer würde jenem wilden Chaos eine neue Ordnung verleihen."
Ich war unschlüssig, wusste ich doch nicht, ob diese Vorstellung mich nun beruhigen oder erschaudern sollte.
"Die große Flut, Mr. Flinsbarry, war Gottes Geschenk der Vergebung, doch die Menschen missdeuteten sie als Strafe. Die tiefen Wesen gebieten uns Heim in den Schoß der Urmutter. Wir müssen..."
"Was müssen wir? Sprechen Sie weiter, sprechen Sie!"
Ich trat ganz nahe an ihn heran und schüttelte ihn sacht.
Der Bürgermeister, nein, Dr. Tymbold ließ seine halbblinden Augen über die Fotos an den Wänden gleiten und begann dann völlig unvermittelt in Tränen auszubrechen: "Wir hätten nie den Schoß unserer Mutter verlassen sollen. Gesegnet sei das Kind, das nie geboren wurde, und verdammt sei der Fisch, der beschloss an Land zu kriechen und auf seinen Flossen zu laufen. Indem er die Luft der Oberfläche atmete, kostete er die Frucht der Erkenntnis und verdammte all seine Abkömmlinge. Wir verloren unsere Schuppen, unsere Kiemen, unsere Heimat und damit letzten Endes auch uns selbst."
Dann wandte er sich wieder mir zu.
"Es ist alles genau so, wie Sie gesagt haben, Mr. Flinsbarry. Alles, was wir verloren haben, wird wieder zu uns zurückfinden." Er streckte seine runzelige Hand aus und drückte mir einen zylindrischen Gegenstand in die meine. "Hier, den haben Sie sich redlich verdient."
In meiner Handfläche lag ein silberner Schlüssel. Unschlüssig, was ich damit tun sollte, steckte ich ihn ein. Hätte ich in jenem Augenblick gewusst, welche Gräuel er entsperren würde, ich wäre zum Pier gerannt und hätte ihn der schäumende See zum Fraß vorgeworfen.
Dr. Tymbold blickte mich fest an und ich meinte auf seinem faltigen Gesicht eine Güte erkennen zu können, mit der ich niemals gerechnet hätte. Ich nickte zum Abschied und machte mich eilig hinaus. Unsere Unterredung hatte so lange gedauert, dass es draußen schon dämmerte.
Wieder im Hotel angekommen, erwartete mich bereits Mr. Flinsbarry mit maskenhaftem Grinsen. Der Spiegel im Eingangsbereich stand wieder neben der Tür, perfekt restauriert, so als wäre er nie kaputt gegangen.
"Schon zurück? Ich hoffe, Sie hatten einen aufschlussreichen Tag."
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