Auch an diesem Morgen war es Mr. Flinsbarry, der mich zum Essen lud. Voll kaum verhohlenem Argwohn blickte ich in sein strahlendes Zahnpastalächeln. Welch unvorhersehbare Phantasmagorie mochte er jetzt wohl wieder ausgeheckt haben?
"Kommen Sie, kommen Sie, Ihr Fisch wird noch kalt."
Gemeinsam, machten wir uns auf in Richtung Speisesaal. Diesmal, war ich es, der hinter ihm herlief, stets darauf bedacht, ihn nicht aus den Augen zu lassen.
"Wie sieht es eigentlich mit den Vorbereitungen für das Fest aus?", fragte ich beiläufig.
"Oh, ausgezeichnet, ausgezeichnet. Ich sage Ihnen, so etwas haben Sie noch nicht gesehn!"
Stimmt und das will ich auch nicht! Was Mr. Flinsbarry jedoch nicht ahnte war, dass ich ihm nun einen Schritt voraus war. Ich wusste zwar noch immer nicht, was er hier eigentlich für eine Show abzog, aber mit einem Toten auf der Gäste Liste, würde das Strandfest wohl oder über ins Wasser gehen.
"Haben Sie eigentlich das von den Fitzgeralds mitbekommen?", wollte er unvermittelt wissen.
Ich musste an dem eisernen Treppengeländer festhalten, da ich ansonsten direkt in ihn hineingestolpert wäre.
"Was ist mit Ihnen?"
"Oh, großartige Neuigkeiten! Stellen Sie sich vor, Mrs. Fitzgerald hat ihr Aufenthalt bei uns bisher so gut gefallen, dass sie sich bereit erklärt hat eine Kolumne über die Festtagssaison in Elrich zu verfassen. Wer weiß, mit etwas Glück schaffen wir es vielleicht staatenweite Bekanntheit zu erlangen. Wäre das nicht ein großartiger Aufschwung für unsere Stadt?"
Das gefiel ihm natürlich! Hinter seiner aufgesetzten Fassade, wusste er genau, was los war. Er wusste, wohin wir gingen, was wir taten, was wir dachten. Und er versuchte es nicht einmal geheim zu halten!
Angekommen am Fuß der Treppe vollführte er eine seiner überschwänglichen Drehungen und stieß mit seinem Spazierstock die Saaltür weit auf.
Was ich dahinter erblicken sollte, ließ mich in sprachloser Schockstarre auf dem Absatz verharren.
Als dann aber langsam wieder ein Gefühl in meinen tauben Körper zurückkehrte, konnte ich kaum noch an mich halten. Nicht einmal die Elektrokrampftherapie eines Bergonic-Stuhls, würde den hysterischen Anfall unterdrücken können, der sich in diesem Moment in mir anbahnte.
Keine fünf Fuß von mir entfernt saß am Frühstückstisch kein geringerer als Mr. Albert Fitzgerald. Derselbe Mr. Fitzgerald, dem noch wenige Stunden Zuvor der Kopf eingeschlagen wurde.
Reglos hockte er da, wie eine Schaufensterpuppe drapiert, mit trüben Augen vor sich hinstarrend. Sein einst so außerordentlich gepflegter Bart zerzaust und ungekämmt. Was war hier nur los?
Noch bizarrer als seine bloße Anwesenheit war jedoch der Umstand, dass außer mir niemand Notiz von dieser Ungeheuerlichkeit zu nehmen schien.
Mrs. Fitzgerald saß zu seiner linken und schnitt ihm mit dem Schürhaken das Fleisch von den Gräten. Sie wirkte wie sonst auch still und zurückhaltend, als könne sie kein Wässerchen trüben. Ganz anders als die ruchlose Gattenmörderin, die in der gestrigen Nacht das Hotel in die Todesabsteige eines H. H. Holmes verwandelt hatte.
Mr. Duff wiederum scherrte sich gar nicht erst um das, was da vor ihm auf dem Teller lag, sondern sondierte weiterhin fleißig seine Öllampe. Und Mortha? Sie trug den Besuchern das Essen auf.
Das ist doch absurd! Sie alle taten so, als ob nichts wäre und ließen die geschmacklosen Späße von Mr. Flinsbarry über sich ergehen. Mittlerweile machte es gar den Anschein, als leitete er das Hotel, so wie er auch schon den Rest der Stadt unter seiner Fuchtel hatte.
Auf einmal fand ich mich wieder auf die Weltausstellung zurückversetzt. Das Riesenrad, trug mich in schwindelerregende Höhen. Doch etwas stimmte nicht. Mr. Flinsbarry war diesmal auch da!
Lachend saß er neben mir in der Gondel.
"Schauen Sie, schauen Sie! Von hier oben aus hat man einen exzellenten Blick auf die Flammen." Ich sah aus dem Fenster und blickte geradewegs in die lichterlohe Feuersbrunst, dich sich durch die Straßen ihren Weg bahnte.
Aber das konnte nicht stimmen. Oder etwa doch? Nicht nur in meinen Träumen, nein, er war wirklich dort gewesen! Ich konnte es mir nicht erklären, aber war mir mit einem Mal sicher, ihn gesehn zu haben! Auf der Weltausstellung in Chicago. Zwischen all den widernatürlichen Attraktionen hatte Mr. Flinsbarry mit kreisendem Spazierstock und strahlendweisem Lächeln die Massen gelenkt.
Ich sah ihn zwischen obskuren Konstrukten aus Glas und Metall stepp-tanzen. Er stellte Apparate vor, deren Funktion sich gänzlich meinem Verständnis von Physik entzogen. Und mit jedem Wort, das seine Lippen verließ, verstand ich weniger.
Hinter ihm brannte die Weiße Stadt in den Funken, die aus seinen Augen stoben. Sie blitzten mir direkt in die Seele und ich wandte den Blick ab. Doch wohin ich auch sah, war ich umgeben von groteskem Spektakel.
Ohne ein weiteres Wort schob ich mein Besteck beiseite und erhob mich von meinem Platz.
"Wollen Sie denn nicht Ihren Fisch zu Ende essen?", fragte Mortha perplex. Ich winkte ab. Der Appetit war mir mittlerweile gehörig vergangen.
Ich wollte die Treppe hinauf, um meine Sachen zu packen, und stürmte zum Ausgang. Im Foyer erwartete mich, wer hätte es gedacht, Mr. Flinsbarry pfeifend an die Wand gelehnt, die Hände in den Hosentaschen verstaut.
"Wo darfs denn hingehen?"
Ich beantworte seine Frage mit einem ungeschickt ausgeführten Faustschlag, unter dem er sich flink hinwegduckte, sodass meine Knöchel lediglich den Spiegel hinter ihm trafen. Das Geräusch von zerbrechendem Glas hallte in der ganzen Hotellobby wieder. Parallel dazu traf mich das lange Ende seines Stocks mitten ins Gesicht.
Schnaufend hielt ich mir die Nase und taumelte einige Schritte zurück, gefasst auf einen weiteren Angriff, der jedoch ausblieb. Langsam legte sich meine Aufregung und ich gewann wieder etwas an Fassung.
"Ich werde diese Stadt verlassen", schnauzte ich ihn an.
"Ist das so?", gab Flinsbarry lediglich zurück.
"Sie werden mich nicht aufhalten?!"
Er trat einen Schritt zur Seite, um mir den Weg frei zu machen.
"Aber nicht doch. Nur zu, gehen Sie, gehen Sie. Das hier ist schließlich immer noch Elrich. Sie werden ohnehin bald wieder zu uns zurückfinden."
Da war ich auch schon zur Tür raus. Ich hielt mich noch nicht einmal damit auf meinen Koffer zu holen. Dieses Puppentheater war mit dem heutigen Tage für mich vorbei. Ich würde mich zur Zugstation aufmachen und dieses elende Städtchen ein für allemal verlassen!
Sollte dieser verfluchte Flinbert Flinsbarry doch weiterhin seine undurchsichtigen Spielchen treiben. Das interessierte mich nicht länger. Um den cholerischen Halbirren würde es mir jedenfalls nicht leid tun. Ebenso wenig um die schwarze Witwe mit ihrem lobotomierten Gatten. Ganz zu schweigen von dieser leeren Schale eines Bürgermeisters, der trüben Auges dabei zusah, wie seine Stadt im Unheil versank.
Nein, ihnen würde ich ganz sicher nicht auch nur eine Träne nachweinen! Die Einzige, um die ich mich dezent sorgte, war Mortha Higgins. Jedoch wusste ich, dass sie diesen Ort aus freien Stücken niemals verlassen würde.
Uns alle banden geistige wie körperliche Gebrechen an diese Zwischendimension, in der sich Realität mit Wahnsinn kreuzte. Allein ich war gewillt, diese Ketten zu sprengen. Ich musste es wenigstens versuchen, wenn schon nicht für andere, dann um meiner selbst Willen!
Obwohl die Bahnhofshaltestelle nur eine Straße weiterlag, fiel es mir zunehmend schwerer, sie zu finden. Ein eisiger Wind hatte den Nebel über die Küste bis tief in die Stadt hineingetragen.
Am Abstellgleich angekommen, fand ich dieses verweist vor. Allein der abgekoppelte Passagierwagon, blieb als stummer Hinweis darauf zurück, dass meine angestrebte Flucht keine Zukunft haben würde.
Verzweifelt blickte ich mich nach allen Seiten um, konnte jedoch nichts erkennen. Ich war verloren. Verloren im schleichenden Chaos, das langsam aber sicher über uns hereinbrach.
Ich konnte es in jeder Faser meines Körpers deutlich spüren. Etwas altes, urtümliches bewegte sich mit unbarmherziger Geschwindigkeit auf diesen Ort zu. Und es war keine Eisenbahn.
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