Kaum hatte sich der Handschuh von meinem Mund gelöst, schnappte ich auch schon nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Erst nach dem dritten oder vielleicht vierten Atemzug, wurde es mir gewahr: Mein letztes Stündlein hatte noch nicht geschlagen!
Verdutzt wandte ich mich an meine Retterin. Hinter mir stand niemand geringeres als Mortha Higgins. Sie hatte mich gepackt und mich in ihr Privatzimmer hinter der Lobby gezogen, keine Sekunde zu früh. Vor der geschlossenen Türe konnte ich noch immer das Kratzen auf den Dielenbrettern hören. Das eiserne Mordinstrument unterlegt mit dem Geräusch leiser Schritte, die ziellos in der Dunkelheit umherwanderten.
Ms. Higgins bedeute mir mit erhobenem Zeigefinger still zu sein und ich kam ihrer Bitte nur allzu gerne nach. So harrten wir eine ganze Weile lang aus. Ob Stunden oder Minuten vermochte ich nicht zu sagen. Ich wusste nur, dass ich vor Erleichterung beinahe zusammengebrochen wäre, als das vertraute Knarzen der Treppenstufen an mein Ohr drang.
Meine Retterin war sofort bei mir und geleitete mich zu einem nahestehenden Stuhl, bevor meine Beine nachgaben. Zitternd und noch immer nach Luft ringend sah ich mich um. Das Zimmer von Ms. Higgins schien sich nicht im mindesten von denen ihrer Gäste zu unterscheiden.
Mit nur einer Ausnahme: Es gab nicht ein einziges Fenster. Das Ölgemälde an der Wand schien ganz in schwarz getunkt zu sein. Nur vage vermochte ich einen schmalen Küstenstreifen zu erahnen, dessen dunkle Ufer das Zimmer gar zu überfluten schienen. Allein die Kerze, die sie angezündet hatte, bewahrte mich vor der völligen Blindheit.
Dann setzte sie sich mir gegenüber aufs Bett und begann zu erzählen. Erst leise zwar, dann mit immer fester werdenden Stimme. Ich lehnte mich an die Rückenlehne des Stuhls und hörte ihr gespannt zu.
"Genau wie Sie, kam auch ich einst als Besucher hierher. Ich wollte in dieser Stadt sesshaft werden, Sie verstehen?"
Ich nickte. Mit bebendem Unterton fuhr sie fort, wie sie vor über zehn Jahren mit einem Schiff in Elrich eingereist war. Die neblige Küstengegend bot den perfekten Schutz für ihre blasse Haut, der das flackernde Licht der Kerze einen ölig, gelblichen Teint verlieh. Fast so gelblich wie ihre unter dem Schleier durchschimmernden Augen. Schon von Geburt an, litt sie unter einer seltenen Krankheit, die sie besonders empfindlich für Sonneneinstrahlung machte.
Zum Zeitpunkt ihrer Einreise war das Städtchen bereits weitestgehend verlassen, wodurch es ein Leichtes für sie war eine leerstehende Immobilie günstig zu erwerben.
Jedoch ergab sich aus der schwindenden Einwohnerzahl ein neues Problem. Das Lichtspielhaus, die örtlichen Läden und der Leuchtturm konnten nicht länger in Betrieb genommen werden. Keine Schiffe konnten mehr in Elrich anlegen und auch die Besucher blieben zunehmend aus.
Schließlich baute Ms. Higgins auf Anraten des Bürgermeisters die Kolonialvilla zu einem Hotel um. Doch auch das wollte das sinkende Schiff nicht vor seinem unausweichlichen Untergang bewahren. Mit jedem weiteren Strandfest brandete weniger und weniger Treibgut an seine Küsten. Und so lockte der Bürgermeister mit immer verzweifelter werdenden Methoden immer zwielichtigere Gestalten an: Trickbetrüger und Hochstapler, aber auch Mechaniker, Erfinder und Ingenieure. Keiner von ihnen hielt es lange aus.
Manche wurden verrückt und reisten freiwillig ab oder aber wurden in Sanatorien zur ärztlichen Begutachtung eingeliefert. Andere verschwanden auf Nimmerwiedersehen.
Ihre Stimme begann zu zittern, doch sie sprach weiter. Es klang, als ob sie sich diese Dinge schon all die Jahre von der Seele hatte reden wollen. Sie erzählte, wie das Ehepaar im Zimmer über unseren Köpfen schon seit ihrer Ankunft in Zwistigkeiten verstrickt war. Ich hörte stumm zu, unfähig zu erwähnen, dass sich diese ein für alle Mal erledigt hatten.
Durch die dünnen Dielenbretter hatte Ms. Higgins sie die letzten Nächte pausenlos streiten hören und jedes mal arteten sie in Tiraden über angewandte Physik aus. Dabei umfassten die Auseinandersetzungen stets dieselben Themen: Der Funkturm bei Shoreham, elektrische Schwingungen, die den Geist paralysierten, und freie Energie. Was auch immer das sein mochte.
"Das ist der Fluch von Elrich.", schloss Ms. Higgins. "Alles, was wir verloren haben, wird wieder an unsere Küsten getrieben. Für jede verstoßene Absonderlichkeit, sucht uns eine neue heim."
Dabei rieb sie sich unaufhörlich die Hände. Ich brauchte einen ganzen Moment, ehe es mir dämmerte, so gefangen war ich von ihrer Geschichte.
"Verzeihen Sie, habe ich Sie verletzt?"
Sie sich zog den Handschuh aus und offenbarte mir den Finger, in den ich undankbarer Weise gebissen hatte, als sie mich in ihr Hinterzimmer gezogen hatte. Es war keine Spur von Zahnabdrücken zu erkennen. Mehr als das verunsicherten mich jedoch ihre Schwimmhäute, die sich zwischen den einzelnen Gliedern ihrer Hand spannten. Auf meinen fragenden Blick hin erzählte sie mir, dass diese Teil Ihrer Anomalie seien.
Bei diesen Worten musste ich mich an eine Ausstellung von Anatomie im Glas zurückerinnern, die ich damals an der Universität von Chicago, in der Abteilung für Biologie studiert hatte.
In meiner Jugend pflegte ich mich mit allerhand derlei wissenschaftlicher Nachforschungen zu beschäftigen. Die grausigen Versuche mit Elektrizität an zappelnden Tierkadavern hatten mich damals noch nicht so sehr geängstigt, wie sie es später tun sollten. In dem darauf folgenden Jahr sollte ich schließlich selbst zum Versuchsobjekt werden.
Jener Tage hatte man uns, eingelegt in Ethanol, die gesamte Evolution des menschlichen Embryos in all ihrer grausigen Pracht offen gelegt. Einmachgläser, die die verschiedenen Zwischenstadien enthielten, waren sauber aneinandergereiht.
"Der Mensch kommt aus dem Meer", so hatte es uns mein damaliger Professor erklärt. "Betrachtet man seine Entwicklung in Mutterleib, besteht daran kein Zweifel. Unser Leben beginnt im Wasser und so transformiert sich in der Ursuppe der Fruchtblase unser Körper von einer fischartigen Kreatur über ein Amphib zu eben jenem aus Versatzstücken anderer Spezies zusammengewürfelten Kuriosum, das wir Mensch nennen."
Offenbar bemerkte Ms. Higgins mein Unwohlsein, denn sie zog sich ihren Handschuh schnell wieder an. "Entschuldigen Sie, ich wollte Ihnen keine Angst machen", wisperte sie. "Es ist schon früh. Sie sollten jetzt gehen."
Das musste sie mir nicht zweimal sagen. Nach den Ereignissen der heutigen Nacht, ängstigte mich nun weniger, was ich in meinen Träumen vorfinden würde. Ehe ich zur Tür hinaus schritt wandte ich mich noch einmal um.
"Danke, Ms. Higgins."
"Bitte, nennen Sie mich Mortha."
Ich nickte. Erst, als ich schon die Tür hinter mir geschlossen hatte, dämmerte mir, dass ich ihr aus Höflichkeit hätte anbieten sollen, mich ebenfalls beim Vornamen zu nennen.
In der Lobby brannte zu meiner Überraschung eine einzelne Öllampe. Ich musste nicht lange überlegen, um zu erraten, wer wohl für ihre Entzündung verantwortlich war. Der Übeltäter stand direkt vor mir. Es war kein anderer als Mr. Duff, der einfach nur dastand und stumm in die Flammen grinste. Das Licht des Petroleums tanzte dabei auf seinem rostroten Schnauzbart und spiegelte sich in seinen gebleckten Zähnen.
Ich verschwendete keinen weiteren Gedanken an ihn und schritt die Treppe hinauf. Für heute hatte ich mehr als genug Absonderliches gesehen. So dachte ich zumindest, ich nichtsahnender Tor.