Schließlich machten wir uns über die vereinsamten Straßen auf Richtung Pier. Nun, da ich so darüber nachdachte, erschien es mir höchst seltsam, dass nicht ein einziger Passant unseren Weg kreuzte. Je näher unsere Gruppe dem Ufer kam, desto dichter wurde der Nebel, der langsam aber stetig aufzuziehen begann. Doch seine undurchsichtigen Schwaden konnten nicht verbergen, was nicht zu verbergen war.
Die Fensterläden der umliegenden Häuser waren allesamt geschlossen und die Fassaden sahen aus, als hätten sie schon seit einiger Zeit keinen neuen Anstrich mehr gesehen. Ihr ursprünglicher Stil war durch den schleichenden Verfall und das Verwesen der Farbe kaum noch auszumachen.
Ganz Elrich wirkte vollkommen aus der Zeit gefallen. Seine Häuser mehr wie vorzeitliche Denkmäler einer vergessenen Welt, denn ein Ort, an dem einmal Menschen gehaust haben mochten.
Mit Ausnahme des Hotels und des Rathauses, das genau auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand, wirkte die Stadt vollkommen verlassen. Wo waren die Bewohner? In der Anzeige war es mir als lokales Event angepriesen worden. Doch davon war weit und breit nichts zu sehen.
Die angepriesenen Attraktionen entpuppten sich als mittelschwere Enttäuschung. Eine trostlose Promenade, gesäumt von morschen Strandbaracken. Die einstigen Geschäfte und Stände waren allesamt verfault und runtergekommen.
Was von ihnen noch übrig war, waren nunmehr leere Gebäudehüllen, deren ursprünglicher Zweck sich bestenfalls erahnen ließ. Das einzig halbwegs intakte Bauwerk schien mir ein Leuchtturm, den ich am Ende de steinigen Küste zu erspähen glaubte.
Ich versuchte mir vorzustellen, wie einst Straßenkünstler und Schausteller die Promenade bevölkerten. Als Kind hatte ich den Jahrmarkt geliebt mit all seinen abenteuerlichen Festspielen. Aber davon war hier nicht mehr viel übrig. Zu trostlos glotzten mich die von Wind und Salzwasser zerfressenen Fassaden an, als das ich in ihnen die Anziehung vergangener Dekaden hätte wiedererkennen können.
Doch das alles hinderte Mr. Flinsbarry nicht daran, uns das kommende Fest in den schillerndsten Farben auszumalen. Er zeigte mit seinem Gehstock mal hierhin, mal dahin, unterhielt uns mit ausgewählten Witzen, über die niemand lachte, und schwärmte von den anstehenden Festivitäten. Der Bürgermeister habe keine Kosten und Mühen gescheut das größtmögliche Spektakel auf die Beine zu stellen. Es fiel mir zugegebener Maßen schwer, ihm zu glauben.
Das Ganze glich mehr einer Aufführung, arrangiert für jene, die entweder verrückt oder verzweifelt genug gewesen waren, um sich hierher zu begeben. Doch was sollte dadurch bloß bezweckt werden?
"Sagen Sie, was ist eigentlich der Anlass für dieses Strandfest?", fragte ich, bemüht mit ihm Schritt zu halten. Bildete ich es mir nur ein, oder wurde der Nebel immer dichter?
"Oh, ich bin erfreut, dass Sie fragen. Es ist nämlich eine überaus erheiternde Geschichte. Wissen Sie, die Ursprünge des Festes sind eng mit dem dieser Stadt verknüpft. Die Gemeinde Elrich wurde vor über hundert Jahren zur Kolonialzeit erbaut. Schon damals hatte die Küstenregion mit verheerenden Stürmen und Überflutungen zu kämpfen. Von fernen Gestaden trieben allerlei Absonderlichkeiten hierher. Die Unwetter waren mitunter derart verheerend, dass sich aus dem Bergen angespülter Fracks schon bald eine eigene Tradition entwickelte."
"Also bisher klingt das alles andere als erheiternd."
"Warten Sie, warten Sie, es wird noch besser!", fuhr Flinsbarry fort, "Elrich war schon immer für seinen außerordentlichen Erfindungsreichtum bekannt. Nebelglocken, die unter Wasser läuten konnten, und gusseiserne Wasserräder zur Energiegewinnung waren damals ihrer Zeit weit voraus. Der große Aufschwung ereignete sich allerdings erst vor wenigen Jahrzehnten. Es begab sich, dass eine Gruppe von Wissenschaftlern unter der Leitung eines gewissen Dr. Richard Tymbold hier zu jener Zeit ein Forschungslabor aufschlug. Wie es der Zufall wollte, bot die abgeschiedene Küstenregion die perfekten Bedingungen für ihre Forschungen."
"Von was für Bedingen sprechen Sie und woran hat dieser Dr. Tymbold denn überhaupt geforscht.", fragte ich.
"Der Nebel", führte er weiteraus, "sollte genutzt werden, um elektrische Impulse weiterzuleiten."
Ich schluckte. Wie viel von dieser illustren Geschichte nun tatsächlich der Wahrheit entsprach, vermochte ich nicht einmal zu erahnen. Viel wichtiger noch: Wollte ich es denn überhaupt wissen?
"Aber glauben Sie nicht mir. Kommen Sie, Kommen Sie, und bestaunen Sie die Wunder von Elrich mit eigenen Augen!"
Und mit diesen Worten machten wir schließlich Halt vor einem runtergekommenen Lichtspielhaus. Ich hätte es fast nicht erkannt, wären da nicht die vergilbten Plakate, die die Außenseite der Schaufenster pflasterten, gewesen.
Der Bürgermeister nutzte die Gelegenheit, um sich am Schalter einzufinden. Passend zu seiner neuen Stelle, hatte er sich einen entsprechenden Aufzug angelegt. In purpurner Weste und einem Hut in gleicher Farbe verteilte er Kinotickets und ranziges Puffmais an die Besucher. Letzteres wurde fast durchgängig abgelehnt. Lediglich Mr. Flinsbarry ließ es sich nicht nehmen, gleich zwei Eimer auf einmal zu ordern, die er auf den jeweiligen Enden seines Gehstocks sorgfältig ausbalancierte.
Ms. Higgins war die einzige, die ihn für dieses Kunststück mit höflichem Applaus bedachte. Der Rest wirkte weit weniger amüsiert. Uns allen dämmerte inzwischen, dass wir nicht hierher gekommen waren, um etwas zu feiern.
Wir traten in den dunklen Vorführungsraum, vollkommen im Unklaren darüber, was uns hinter den mottenzerfressenen Vorhängen erwarten mochte. Doch die Bilder, die der ratternde Projektor an die Wand zauberte, sollten unsere schlimmsten Befürchtungen bei weitem übertreffen.
Es war eine Sache die Geschichte zu hören, doch eine ganz andere sie mit eigenen Augen mit ansehen zu müssen. Unter dem rhythmischen Kauen von Mr. Flinsbarry und dem leisen Wimmern Trisha Fitzgeralds, beobachteten wir, wie eine Gruppe in weiß gekleideter Männer brodelnde Chemikalien anmischte.
Ich hatte schon einmal davon gehört, dass zu militärischen Zwecken in Zeiten, als das Sonar noch nicht erfunden worden war, an künstlichem Nebel und anderen chemischen Scheußlichkeiten geforscht wurde. Eine brodelnde Flüssigkeit begann unter elektrischer Spannung zu leuchten und glimmenden Dunst in die Luft zu speien.
Mr. Fitzgerald konnte natürlich nicht umhin die Absurdität der Handlung mit seinen geistreichen Kommentaren zu unterstreichen. Seine bessere Hälfte wiederum begnügte sich damit, ihren Kopf in seiner Schulter zu vergraben. Doch selbst sein blasiertes Gehabe, vermochte die Wirkung des Gezeigten in keinster Weise abzuschwächen.
Wir beobachteten, wie sich die Körper der unseligen Wissenschaftler unter dem Einfluss der wabernden Substanzen veränderten. Allein die schlechte Bildqualität bewahrte uns vor den scheußlichen Details ihrer Transformation.
Ich hörte zwar Mr. Fitzgerald über die vermeintliche Billigkeit der Effekte herzhaft lachen. Doch selbst ihm stockte der Atem, als der Dunst sich lichtete und den Blick auf die sich windende Körper freigab. Ihre zusammengewachsenen Gliedmaßen und erstickten Schreie, würden mich noch Tage danach in Gedanken begleiten. Nicht hinsehen wollend, aber mich auch nicht abwenden könnend, blieben meine Augen von der Leinwand gefesselt.
Es gab einen harten Schnitt und die übrigen Beteiligten auf der Leinwand schienen sich einig, dass die Versuche ein Fehlschlag gewesen seien. Eine Mannschaft wurde bereitgestellt, um die Substanz ein für alle Mal auf dem Grund des Meeres zu versenken.
Die folgenden Aufnahmen wurden vom Pier aus gedreht. Beladen mit jenem dunklen Geheimnis zog das Schiff und die Besatzung aus und wart schon bald nicht mehr gesehen. Es war unklar, ob es einen Unfall gab, als die teuflische Tinktur mit dem Meerwasser synergierte oder ein Aufstand unter den Besatzungsmitgliedern ausbrach.
Möglicherweise war es auch der Kapitän selbst, der entschieden hatte, diese gottlose Geschichte ein für alle mal auf dem Grund des Meeres enden zu lassen. Was auch immer geschehen sein mochte, das letzte, das wir auf der Leinwand erblickten, war wie aus weiter Ferne, dass Schiff in einer wild um sich greifenden Nebelwolke unterging. Als diese abzog, waren Kahn und Crew verschwunden. Und mit diesem Bild endete der Film.
Ich konnte nicht fassen, was sich mir da offenbart hatte. Als mich abwandte, sah ich, wie sich Tränen in Ms. Higgins Augen spiegelten. Ich legte meine Hand auf die Ihre, sowohl zu ihrer als auch meiner eigenen Beruhigung.
Hinter uns saßen die Eheleute zur Salzsäule erstarrt auf ihren Sitzen. Mrs. Fitzgerald wimmerte noch immer. Ihr Mann dagegen fuhr sich geistesabwesend durch die gewachste Bartpracht, wobei er sich um Haaresbreite seines Schnauzers entrissen hätte.
Lediglich der sonst so aufbrausende Mr. Duff weilte wie die Ruhe selbst in seinem schäbigen Sessel. Die hypnotischen Projektionen des Kinematographen schienen seine gereizte Stimmung tatsächlich abgemildert zu haben. Mehr noch. Als wir die Vorführung verließen, wirkte er wie ausgewechselt. Das Getriebene in seinem Blick war eine fast schon beängstigenden Angespanntheit gewichen.
Wir anderen wimmelten verstört und bleich aus dem Saal. Keiner von uns wagte es auch nur ein Wort über das Gesehene zu verlieren.
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