Unweit der Zugstation befand sich ein Hotel, indem wir Unterkunft fanden. Gebeutelt von der langen Fahrt und dem unbarmherzigen Unwetter, schleppten wir uns über die Schwelle einer alten Villa im Kolonialbaustil.
Das Haus sowie seine altmodische Einrichtung erregten sofort mein Interesse. Möbel aus schwerem, dunkeln Holz reihten sich an die moosgrüne Tapete, die hier und da bereits abzublättern schien.
Trotz der späten Stunde war das Hotel nur spärlich beleuchtet. Eine einzige Öllampe stand an der Rezeption und erhellte ankommenden Gästen den Eintritt. Ihr Licht wurde reflektiert von einem großen Spiegel in einem kunstvoll geschnitzten Rahmen, der in der nähe des Eingangsbereichs angebracht war. Die gesamte Einrichtung wirkte auch mich wie aus einer anderen Zeit.
Kaum war ich eingetreten, da fühlte ich mich auch schon an jene alten Bauten erinnert, die einst die Straßen meiner Heimatstadt geziert hatten. Gerne hätte ich mich der Müdigkeit zum Trotz weiter umgesehen, da trat eine, von einem dunklen Schleier verhüllte, Gestalt in einem mattschwarzen Kleid aus den Schatten, als wäre sie darin geboren worden.
Sie neigte den Kopf zu einer kurzen Verbeugung und stellte sich uns als die Hoteleignerin, Ms. Mortha Higgins, vor. Zwar fand ich etwas absonderlich, dass sie uns anstelle einer Rezeptionistin in Empfang nahm, aber auch nicht viel absonderlicher als der Rest meiner Bekanntschaften in Elrich.
Mr. und Mrs. Fitzgerald waren die ersten, die sich in das Gästebuch eintrugen. Dabei ließ es sich Mr. Fitzgerald natürlich nicht nehmen, hervorzuheben, welch ungewöhnliches Gefühl es doch war, seinen echten Namen auf den welken Seiten eines Buches lesen zu können.
Seine Frau kommentierte dies mit meinem Zurechtrücken ihrer Brillengläser. Kaum hatte Ms. Higgins ihnen ihren Zimmerschlüssel ausgehändigt, verschwanden sie auch schon die knarzenden Dielen der Treppe hinauf zu ihrem Hotelzimmer.
Ich wäre eigentlich der Nächste in der Schlange gewesen, doch kaum machte ich einen Schritt nach vorne, da drängte sich auch schon der Grobian aus dem Abteil an mir vorbei und setzte seine Unterschrift unter die der Fitzgeralds.
Verärgert warf ich einen Blick über seine Schulter und erhaschte einen Blick auf seinen Namen: Martin Duff. Irgendwie kam mir dieser bekannt vor, doch ich konnte ihn in jenem Moment nicht so recht zuordnen. Nachdem der ungestüme Mr. Duff Ms. Higgins den Schlüssel zu seinem Zimmer aus der Hand gerissen hatte und die Treppenstufen empor stürmte, war nun endlich auch ich an der Reihe.
Aus nächster Nähe betrachtet, wirkte die Hotelierin nur umso ominöser. Ihr Kleid hatte sie sich bis zum Kinn zugeknöpft. Die Gesichtszüge unter dem dunklen Stoff ihres Schleiers waren kaum noch zu erkennen. Doch auch das schwache Licht der Kerze konnte nicht den öligen Teint ihrer Haut kaschieren.
Aufgrund ihrer schwarzen Kluft ging ich davon aus, dass sie erst vor kurzem verwitwet sein musste. Ich nahm mir den Füller und begann meinen Namen ins Gästebuch einzutragen.
"Woher kommen Sie?", fragte sie mit rauchiger Stimme.
"Chicago", antwortete ich.
"Chicago? Dann sind sie aber von weither in unser beschauliches Städtchen gereist. Fand dort nicht vor Jahren die Weltausstellung statt?"
Bei diesen Worten glitt mir der Stift aus der Hand. Ich bückte mich, um ihn aufzuheben, doch Ms. Higgins kam mir zuvor. Während ich den Füller aus ihrer behandschuhten Hand nahm, erhaschte ich einen kurzen Blick unter den dunkeln Stoff, der ihr Gesicht verhing. Ich wollte es nicht beschwören, doch meinte ein Paar gelbstechender Augen erkennen zu können.
"Haben Sie eine geruhsame Nachtruhe. Mr. Flinsbarry."
Ich wandte mich um und erblickte zu meiner Überraschung einen Mann in rotweißgestreiften Hemd, dunklen Hosenträgern sowie dazu passender Fliege. Abgerundet wurde seine sonderbare Garderobe von einem Gehstock und einem Sonntagshut auf dem perfekt frisierten, blonden Schopf. Ich konnte mich nicht daran erinnern, ihn zuvor unter den Zuggästen gesehen zu haben.
Mr. Flinsbarry tippte sich mit der Spitze seines Stocks zum Gruß gegen die Hutkrempe und zwinkerte mir lachenden Auges zu, ehe auch er sich abwandte.
Ich ließ mir noch von Ms. Higgins meinen Schlüssel geben und folgte seinem Beispiel. Die eingravierte Zimmernummer verriet mir, dass ich mich wohl bis ganz nach oben hochschleppen musste.
Passend zu dem Unwetter, das hinter den zugezogenen Fensterläden wütete, war ich glücklicherweise nur mit Sturmgepäck unterwegs, wodurch mir der Aufstieg über die steilen Stufen noch einigermaßen leicht fiel.
Auf meinem Weg passierte ich Bilder von Menschen aus verschiedenen Epochen, die sich an den gepolsterten Wänden entlangreihten.
Endlich angekommen in dem engen Dachgeschoss, das mir als Unterkunft diente, ließ ich mich erstmal auf die Matratze meines Bettes fallen.
Kurz dachte ich darüber nach mein Buch wieder aufzunehmen, doch kreisten meine Gedanken noch über ein anderes Schriftgut. Ich hatte mich in der Hoffnung auf diese Reise begeben, dass der Ausflug an die abgelegene Küste, fernab des mondänen Horrors, mich von meinen Albträumen kurieren könnte.
"Kommen Sie, kommen Sie nach Elrich", hatte es gehießen. "Lassen Sie sich verzücken und verzweifeln von unseren lokalen Kuriositäten. Haben Sie sie einmal besucht, verfolgen Sie sie ein Leben lang!"
Ich nahm die Anzeige zur Hand und las sie wieder und wieder durch, wie ich es schon zahllose Male zuvor getan hatte, beinahe als erwartete ich, dass die Worte mir eine versteckte Bedeutung offenbaren würden. Mein ganzes Denken wurde konsumiert von was auch immer ich zwischen diesen Zeilen zu lesen glaubte, aber nicht finden würde. Was nur hatte mich an ihnen derart fasziniert, dass ich noch am selben Abend meine Sachen gepackt und mir ein Zugticket gekauft hatte?
All meine Grübeleien brachten mich jedoch zu keinem befriedigenden Ergebnis und so sank ich in die Kissen und ergab mich meiner Erschöpfung. Obwohl ich den Großteil meines bisherigen Lebens in einer Großstadt voller Menschen verbracht hatte, so hatte ich mich doch stets isoliert gefühlt. Das beschauliche Elrich dagegen war für meinen geschundenen Geist wie eine Oase des klaren Verstands... so dachte ich zumindest.
Die wahren Strapazen würden aber erst noch auf mich zukommen, nachdem ich mein Bewusstsein eben jenen Traumlanden übereignet hatte, denen ich mich bei meiner Anreise noch nicht zu stellen gewagt hatte. Kaum waren meine Augen geschlossen, befand ich mich in dem uralten Herrenhaus, in welchem ich als Kind aufgewachsen war, und saß in genau dem Ohrensessel, aus dem mir mein Großvater dereinst alte Schauergeschichten vorgelesen hatte.
An den Wänden hingen Schwarzweißaufnahmen von Familienangehörigen und Freunden, die mir mit ihren vertrauten Gesichtern Trost spendeten, nur um dann in schwarzer Asche aufzugehen. Ihre Bilderrahmen zersprangen vor meinen schreckgeweiteten Augen. Zischende Flammenzungen fraßen sich die Holzwände entlang und verschlangen alles, was mir lieb und teuer war.
Das große Feuer vernichtete, was von der Schwarzen Stadt noch übrig geblieben war, und an ihrer Stelle traten an Stahlskeletten hochgezogene Abscheulichkeiten aus Terrakottaziegeln, auf das die Geschichte sich nicht wiederholen möge.
Ich wollte fliehen, doch lederne Riemen fesselten mich. Nicht länger befand ich mich im niedergebrannten Haus meines Großvaters. Stattdessen saß ich auf dem elektrischen Stuhl, ausgestellt auf der Weltausstellung von Chicago. Die Gesichter um mich herum nahmen die Fratzen der Schaulustigen an, die für ihren Ticketpreis etwas sehen wollten.
Ein Hebel wurde umgelegt und die elektrische Hinrichtungsmaschine schoss tausend Volt durch meinen Körper. Ich zuckte und zappelte, doch der Strom unsichtbarer Energie wollte nicht abreißen. Es war, als würde ich zur Belustigung der johlenden Menge einen obskuren Tanz aufführen. Einen Tanz, der mein Blut zum Kochen und meinen Verstand an den Rand des Wahnsinns treiben würde.