Seichter Nieselregen trommelte gegen die Außenseite der Wagonfenster. Das Geräusch riss mich aus meinem unruhigen Schlaf. Meine Taschenuhr zeigte 18:00 Uhr abends an. Ich ließ meinen Kopf zurück auf die Rücklehne meines Sitzes sinken und rieb mir die Augen.
Mein Blick wanderte hinunter auf den ranzigen Teppichboden, vorbei an holzgetäfelten Abteilwänden bis hinauf zu der flackernden Gasfunzel über meinem Kopf. Ich war überrascht, dass ein so altes Model bereits elektrifiziert worden war. Noch überraschter war ich, dass es sich bei den Zugwagons um europäische Modelle mit Einzelabteilen handelte. Wohler fühlte ich mich damit jedoch nicht.
Ein Küstenurlaub zur Kontemplation schien mir genau das Richtige, um meine lädierten Nerven zu beruhigen. Noch sollte ich von den Schrecken, die mich bei meiner Ankunft erwarten würden, nichts wissen. Andernfalls hätte ich auf der Stelle meine Koffer gepackt und wäre aus dem fahrenden Zug gesprungen.
Stattdessen schloss ich meine müden Lieder und sann über jenen rätselhaften Traum nach, welcher mich so unsanft geweckt hatte. Es war derselbe, der mich mit seinen Bildern nun schon seit mehreren Jahren heimsuchte: Ein Monolith aus künstlichem Licht, phonografische Stimmen, ein Rat im Himmel, das um das Auge eines Sturms zirkulierte und ich, gefangen in seinem Wirbel. Schreiend ersuchte ich nach Hilfe, als mich unsichtbare Kräfte in die Höhe rissen. Doch niemand konnte mich hören. Das Abteil war leer. Außer mir gab es keine weiteren Fahrgäste.
Ich beschloss den Rest der Fahrt meinen Verstand mit etwas Lektüre wach zu halten. Für diesen Fall hatte ich mir eigens ein Buch von einem aufstrebenden, jungen Neuenglandaristokraten eingepackt.
Mein Blick fixierte die gedruckten Letter, aber kaum hatte ich sie in den Fokus gerückt, entschwanden sie auch schon meinem Bewusstsein. Egal, wie sehr ich es versuchte, es wollte mir einfach nicht gelingen, mich in den wundersamen Traumlanden meiner Vorstellungskraft zu verlieren. Zusehends wurden die Fantasiegebilde fremder Welten von den umso realeren Schreckensbildern meiner Vergangenheit erschüttert, unterstrichen von dem Rattern und Poltern des Zuges. Und wenngleich es mir zuwider war, in einem solchen Teufelsgefährt zu logieren, so musste ich mich dennoch dieser Notwendigkeit beugen.
Fast schon meinte ich, mich in dem bedauernswertem Protagonisten jenes Groschenromans wiederzufinden, der mit aller Macht daran verzweifelte, den außerweltlichen Mächten, die jenseits allen menschlichen Begriffsvermögens lagen, Herr zu werden.
Bei meinen emsigen Bemühungen es dennoch zu versuchen, musste der Zug mehrere Haltestellen passiert haben. Denn als ich aufschaute, bemerkte ich, dass ich nicht länger der einzige Fahrgast in dem spärlich beleuchteten Abteil war. Ein Ehepaar mittleren Alters hatte auf der Sitzpolsterung mir gegenüber Platz genommen. Ich war so vertieft in Gedanken gewesen, dass ich keine Notiz von ihnen genommen hatte, bis sich der Mann mit einem geräuschvollen Räuspern bemerkbar machte.
Er hatte ein markantes Profil, eingerahmt von einem frischgewachsten Vollbart. Unter seinen dunklen Brauen warf er mir einen forschen Blick zu.
"Was lesen Sie da?"
Ich schluckte. "Lovecraft, wenns beliebt."
"Lovecraft, pff. Diese zweitklassige Poe-Imitation?"
"Sie sind mit seinen Geschichten vertraut?", fragte ich.
"Ich habe jede einzelne von ihnen gelesen. Grauenhaft! Was fasziniert Sie so sehr an diesem Stümper?"
Ich wusste nicht, welche Antwort ich geben konnte, die seinem Drängen Genugtuung verleihen mochte. Ebenso widerstrebte es mir seiner Impertinenz nachzukommen. "Lassen sie mich raten: Sie sind Literaturkritiker."
"Ich bin selbst Autor. Meine Frau ist die Kritikerin."
"Ach ja? Was für Bücher haben Sie denn bisher so veröffentlicht?"
Der Mann gab abermals ein abfälliges Schnauben von sich. "Die würden Ihnen nichts sagen, ich veröffentliche ausschließlich unter Pseudonym."
"Ich kenne nicht einmal Ihren richtigen Namen.", gab ich zurück.
"Adam. Adam Fitzgerald und das hier ist meine Frau, Trisha Fitzgerald."
Die Frau neben ihm schenkte mir ein zurückhaltendes Lächeln. Sie war ebenso dunkelhaarig wie ihr Gatte, allerdings von einer weitaus zierlicheren Erscheinung.
"Angenehm. Ich bin die Autorin bei der..."
"Moment", unterbrach ich Sie. "Ich dachte, Sie wären die Kritikerin."
Sie schob dem Steg ihrer Brille mit einem eleganten Fingerzeig nach oben.
"Um zu kritisieren, muss man schließlich Ahnung von der Materie haben. Habe ich nicht recht, Schatz?" Aber dieser winkte lediglich ab.
"Genug davon, Sie haben sich noch gar nicht vorgestellt!"
"Oh, entschuldigen Sie. Mein Name ist..."
Die Zugpfeife ertönte und Mr. Fitzgerald sprang schlagartig auf, offenkundig froh darüber, dass die Unterhaltung ein abruptes Ende gefunden hatte, und schleifte seine Frau hinter sich her.
Auch ich würde mich nicht zweimal bitten lassen und erhob mich, um das Abteil zu verlassen. Noch ahnte ich ja nicht, dass mein Zusammentreffen mit dem sonderbaren Ehepaar nur die erste in einer langen Abfolge von sonderbaren Begebenheiten war, die mich seit meiner Ankunft erwarten sollten.
Der Zug hatte seine Endhaltestelle erreicht. Auf dem Gang wäre ich beinahe mit einem untersetzten Mann von gedrungener Gestalt zusammengestoßen.
Grummelnd und fluchend schleppte er einen riesigen Koffer bei sich, mit dem er mich fast umgerannt hätte. Zwar trug der Mann einen teuren Anzug, doch sein Gebaren war von grobschlächtiger Natur. Außer ihm, den verschrobenen Eheleuten von vorhin und meiner Wenigkeit schien es keine weiteren Fahrgäste zu geben.
Ich trat zusammen mit den anderen ins Freie. Der Schaffner half uns derweil dabei unser Gepäck auszuladen, ehe er sich eilig seiner Uniformjacke entledigte. So ließ auch ich mich nicht lumpen, meine Garderobe aufzubessern. Der leichte Regen, der kurz nach meiner Abfahrt eingesetzt hatte, war inzwischen zu einem mittelschweren Orkan herangewachsen. Nicht gerade die besten Voraussetzungen für ein Strandfest.
Die Tropfen peitschten uns mit unnachgiebiger Wucht ins Gesicht und doch wagte ich es nicht einen Schirm aufzuspannen, aus Angst er würde mir aus der Hand geweht werden. Ich schritt mit den Anderen unter das schützende Dach der runtergekommenen Haltestelle und klammerte dabei meinen Mantel eng an mich, damit der Wind ihn mir nicht vom Leib riss.
Bei unserer Ankunft war es pechschwarze Nacht. Der Himmel wurde vollständig verschluckt von Gewitterwolken, aus denen vereinzelt Blitze stoben und die allgegenwärtige Finsternis für zumindest wenige Sekunden erhellten. Eine Szenerie wie sie genauso gut aus der Feder eines Gruselliteraten hätte stammen können.
Der Schaffner indes hatte sich nun vollständig umgezogen und gab sich uns in seinem neu angelegten Pelzmantel als Bürgermeister der beschaulichen kleinen Küstengemeinde zu erkennen, an die es uns an diesem unseligen Abend verschlagen hatte.
Seine Haut war so fahl, dass sie im Dunkeln zu glimmen schien. Die ebenso blassen Augen sahen trübe durch uns hindurch.
"Seien Sie gegrüßt, verehrte Besucher", schrie er mit gebrochener Stimme gegen die Gewitterwogen an. "Willkommen in Elrich!"
Elrich, eine Gemeinde voller unerzählter Geschichten, zu denen sich an jenem verregneten Tage vier weitere hinzugesellten. Elrich, eine Ruine, die einst eine Stadt war, umschlossen von Mythen, die keine waren. Und Elrich, ein Ort, an dem Ängste wahr wurden.
Es donnerte, doch niemand applaudierte. Der Rest der Rede ging im Tosen des tobenden Sturms unter.
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