Woche 11, Tag 1 - Sonntag
Das ganze Wochenende hatte Maya sehnsüchtig auf ihre Kinder gewartet. Sie stand am Strand und hatte bis eben die Hoffnung nicht aufgegeben, dass die Nachricht, die ihr ihre Freundin Hinni überbracht hatte, kein vergangenes Unheil bedeutete. Letztendlich musste sie einsehen, das dem doch so war.
Hinni hatte sie tags zuvor besucht und berichtet, dass ihre Tochter Latifa sie mithilfe des Muschelhorns gerufen hatte. Als ihre Freundin jedoch am Ort des Rufes angekommen war, befand sie sich auf dem Ozean. Mitten im Nirgendwo. Keine Insel weit und breit, kein Boot von dem der Ruf gekommen sein konnte. Hinni hatte die Gegend abgesucht, aber sie hatte keine Hinweise, die auf den Verbleib ihrer Tochter hinweisen konnten, gefunden.
Vor Mayas innerem Auge spielten sich die blutrünstigsten Szenen eines aussichtslosen Todeskampfes ab. Und sie wusste, dass sie schuld daran war.
Der Gedanke fraß sich durch ihre Eingeweide. Sie waren nicht vorsichtig genug gewesen und hatten dem Meeresteufel in die Tentakel gespielt, ihm gegeben, wonach er so lange gedürstet hatte.
Der quälende Gedanke, dass Latifa ihretwegen ihr Leben lassen musste, hatte sie seitdem verfolgt. Tag und Nacht. Sie hatte seit Hinnis Besuch kein Auge mehr zugetan. Es brach Maya das Herz.
“Es tut mir leid”, schluchzte sie. “Es tut mir so unsagbar leid. Das ist alles meine Schuld. ” Maya weinte hemmungslos. Eine lange Weile verging, bis sie sich wieder fasste und die Tränen von den Wangen wischte.
Eine teuflische Stimme in ihrem Innersten repetierte in Dauerschleife, das sie es hätte verhindern können, wäre sie nicht so egoistisch gewesen. Warum hatte sie unbedingt ihre Kinder wiedersehen wollen? Sie hätte ihre Tochter niemals hierherbringen lassen dürfen. Ihre Kinder hatten beide verdient in Ruhe ihr Leben zu leben. Ihre Träume zu verwirklichen, jemanden kennenzulernen, vielleicht eine eigene Familie zu gründen. Doch zumindest Latifa hatte sie die Möglichkeit genommen.
Der Meeresteufel hatte sich geholt, was er so lange begehrte. Er hatte ihr genommen, was sie am meisten liebte. Das war schlimmer, als ihr eigenes Leben zu verlieren.
Und nun stand Maya hier am Strand und liebäugelte mit dem einzigen Gedanken, der sie vielleicht nochmal mit ihrer Tochter vereinen könnte.
Warum sollte sie die quälende Warterei und die zermürbenden Gedanken nicht abkürzen?
Maya trat einige Schritte hervor, bis sie im knietiefen Wasser stand. Dann rief sie in die Weiten des Ozeans hinaus:
“Meeresteufel! Ich bin bereit für dich. Komm, falls du dich traust und hol dir, was du so lange begehrtest!“
*** *** ***
Eine Woche später
Es war früher Morgen und das Zwitschern der Vögel und das Eindringen der ersten Sonnenstrahlen kitzelten Jordan wach.
Er wandte den Kopf zum Nachttisch und blickte auf sein Handy. Damit er danach greifen konnte, löste er sich aus den Armen seiner Freundin
Keine Nachricht von Latifa. Er seufzte. Neben ihm regte sich Lopita. Sie beobachtete ihn.
“Machst du dir immer noch Sorgen wegen deiner Schwester?”
“Das passt einfach nicht zu ihr!”, erklärte er.
“Sie ist bestimmt immer noch unterwegs und steckt irgendwo in einem Funkloch. Du kennst das Problem doch am besten.”
„Ich weiß, du willst mich nur beruhigen, aber das hilft nicht, Lopita. Ich kenne Lati! Außerdem wollte sie mich unbedingt hier treffen. Seitdem ich wieder hier bin, kann ich sie nicht erreichen.“
Nachdem sie sich vor einer Woche getroffen und versöhnt hatten, hatten sie sich auch ausgesprochen. Einzig von seinem Ausrutscher nach ihrer Abfuhr hatte er ihr bis heute nichts erzählt. Dieses Geheimnis würde er mit ins Grab nehmen. Es spielte ja auch keine Rolle, da sie zu dem Zeitpunkt keine Beziehung mehr geführt hatten.
Seit ihrem Wiedersehen hatten sie die Tage zusammen verbracht. Jordan hatte es genossen und war froh, dass sie einen Neustart wagten. Auf seiner Reise war ihm erst bewusst geworden, dass er Lopita an seiner Seite nicht mehr missen wollte.
Allerdings war mittlerweile eine ganze Woche vergangen, seitdem er wieder auf Isla Paradiso war. Seitdem hatte er nichts von seiner Schwester gehört. Von Tag zu Tag wuchs seine Sorge um sie.
„Ihr muss etwas passiert sein. Es treibt mich in den Wahnsinn nicht zu wissen, was mit ihr ist.“
„Aber wenn ihr etwas passiert wäre, hätten wir doch mittlerweile etwas gehört. Sie kann doch nicht einfach spurlos verschwunden sein.”
“Ich spüre, dass etwas nicht stimmt. Das klingt verrückt, ich weiß. Aber dass sie mich unbedingt sehen will und seitdem ich da bin, einfach nicht erreichbar ist, ergibt keinen Sinn. Das Schlimmste ist aber, ich wüsste nicht, wo ich beginnen sollte nach ihr zu suchen.”
“Ich verstehe.” Für einen kurzen Moment schwiegen sie und Lopita lehnte sich wieder entspannt zurück, während Jordan an die Bettkante rutschte, um aufzustehen.
“Meintest du nicht mal, deine Schwester hätte einen Freund gehabt?”, warf sie plötzlich ein. Jordan dachte nach.
“Ich bin mir nicht ganz sicher. Aber ich habe jetzt zumindest eine Idee, wo ich anfangen kann zu suchen.“
Dann stand er auf, suchte hastig seine Kleidung zusammen, schlüpfte in seine Hosen und zog sich sein Hemd über.
“Danke, Lopita!” Jordan ging um das Bett herum, zog seine Freundin zu sich hoch und umarmte sie.
„Sobald ich weiß, was Sache ist, kann ich das mit uns besser genießen und dann feiern wir unsere Versöhnung, versprochen.“
Mit einem Kuss auf die Wange verabschiedete er sich. Es war Zeit nach seiner Schwester zu suchen.
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