Woche 6, Tag 3 - Dienstag
„Mir ist langweilig“, stöhnte Latifa, während das Hausboot über das Wasser glitt. Sie lehnte sich über die Reling und studierte die Bewegungen des Wassers. Weit und breit war kein Land in Sicht. In der Ferne war lediglich eine große Nebelwand zu sehen.
„Ich glaube, hier könnte man gut tauchen. Halt mal an, Jordan!“
Jordan drehte sich zu ihr herum. „Was? Jetzt? Wir kommen gerade so gut voran, die Insel müsste bald zu sehen sein. Ich spür es!“
„Mir egal, noch sieht man null. Hier gibt es nichts außer Wasser. Wir sind jetzt schon zwei Tage unterwegs und ich war seitdem nicht mehr im Wasser. Ich brauch eine Pause, sonst geh ich hier noch ein. Also halt an“, forderte Latifa.
„Die Insel läuft uns schon nicht davon, aber man kann nicht überall tauchen. Den Tauchspot hier möchte ich erkunden.“
„Aber ... Lati ... ich wette mit dir, dass hinter dem Nebel die Insel liegt. Es kann doch gar nicht anders sein!“
„Jordan, zum letzten Mal: Halt an! Ansonsten darfst du mich auch gerne wieder nach Hause bringen. Die Reise ist sonst sofort für mich beendet.“ Das hatte gefruchtet. Jordan stellte den Motor ab. „Erpressung nennt man das, Schwesterherz.“
„Gut erkannt.“ Sie grinste. „Aber wer weiß ... vielleicht finden wir unter Wasser hilfreiche Infos. Du weißt doch noch gar nicht sicher, ob wir auf der Insel irgendwas Sinnvolles erfahren. Oder ob hinter der Nebelwand wirklich etwas ist. Das ist nur ein Anhaltspunkt. Und ob wir sie überhaupt finden, steht auch nochmal auf einem anderen Blatt.“
„Danke fürs Mut machen.“
„Jetzt sei doch nicht so mürrisch. Wir finden sie schon. Aber erst einmal ... geht’s ab ins kühle Nass!“ Mit Anlauf sprang Latifa ins Wasser. „Boah, was habe ich das vermisst!“, rief sie ihrem Bruder zu, als sie wieder aufgetaucht war.
Dann schwamm sie wieder zurück zum Boot, zog sich ihre Tauchsachen an und kletterte über die Bordleiter wieder hinunter ins Wasser.
***
Langsam und kontrolliert stieg sie hinab in die Tiefe. Und ihr Riecher hatte sie tatsächlich nicht im Stich gelassen. Inmitten der hohen Weichkorallen und Riffe befand sich ein gesunkenes Fischerboot.
Sie stieg immer tiefer hinab, bis fast auf den Grund. Das Bootswrack ragte aus dem Sand. Hier und da fanden sich verrostete, alte Fischerutensilien. Nichts, was sich zu verkaufen lohnen würde, deshalb schwamm Latifa weiter mit einem wachsamen Blick auf der Suche nach wertvollen Gegenständen oder Meerestieren. In der Ferne konnte sie ein weiteres Schiffswrack ausmachen. Sie schwamm dorthin, um auch dort den Boden nach Kostbarkeiten abzusuchen. Aber auch hier konnte sie nichts Interessantes entdecken.
„Was für eine Pleite“, dachte Latifa und überlegte, welche Richtung sie als nächstes einschlagen sollte. Hinter einem der Hügel konnte sie den Eingang zu einer Höhle ausmachen. Sie schwamm darauf zu und erkannte, dass dort etwas herausragte. Was war das? Als Latifa näher herankam, bildete sie sich ein, dass es riesige Tentakel waren. War es möglich, dass hier ein riesiger Kraken lebte?
Ihr Herz drohte ihr in die Hose zu rutschen, sie hielt abrupt inne und trieb auf der Stelle. Sie wagte nicht sich weiter zu bewegen. Sollte sie riskieren noch näher heranzuschwimmen? Für einen kurzen Moment überlegte sie die Tauchtour abzubrechen. Sie schaute hinauf Richtung Oberfläche. Aber als sie wieder zum Höhleneingang blickte, war dieser leer. Latifa war verunsichert. Hatte sie sich die Tentakel vielleicht nur eingebildet? Vorsichtig schwamm sie näher heran.
Mit jedem Meter, den sie sich der Höhle näherte, pochte ihr Herz schneller. Sie spürte das Adrenalin im Körper. Es war wie ein Rausch. Die Neugier siegte. Auch wenn sie Angst hatte, war der Entdeckerdrang stärker.
Sie wollte herausfinden, was sie dort gesehen hatte, auch wenn sie wusste, dass es ziemlich unverantwortlich war, was sie hier trieb. Sie tauchte ohne Begleitung und wenn was passierte, konnte es ihr Leben kosten. Aber wann hatte sie je die Chance gehabt einen riesigen Oktopus live zu Gesicht zu bekommen?
Vielleicht hatte sie sich das auch nur eingebildet und wenn dem so war, könnte sie stattdessen in der Höhle vielleicht den ein oder anderen wertvollen Gegenstand entdecken.
Vor der Höhle hielt sie nochmal inne und blickte in das tiefe Schwarz. Wer wusste schon, was darin auf sie lauerte oder welche Kostbarkeiten man dort finden konnte. Mit klopfendem Herzen wagte es Latifa und kletterte langsam in die Dunkelheit hinein.
Jetzt gab es kein Zurück mehr.
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