Hallo Jordan,
ich weiß gar nicht, wie ich diesen Brief am besten anfangen soll. Zumindest weiß ich, dass mein guter Freund Batu sein Versprechen gehalten hat, wenn du das hier liest. Das heißt aber auch, dass ich nicht mehr am Leben bin, um dir das folgende von Angesicht zu Angesicht mitzuteilen und mich weiter um dich und deine Schwester zu kümmern.
Es tut mir leid, dass ich euch so früh verlassen musste. Ich hoffe, ihr könnt mir das eines Tages verzeihen, wo ich euch doch versprochen hatte, ein Greis zu werden und euch nicht als Waisen zu hinterlassen.
Mein Sohn ... ich weiß, ich habe dir lange Unrecht damit getan, dass ich dir nie erlaubt habe, mich auf den Ozean hinauszubegleiten. Dabei hast du dir das immer so sehr gewünscht. Solltest du nach mir kommen, wird dich früher oder später dein Weg sowieso hinaus auf den Ozean führen. Aber das Wissen darum habe ich immer verdrängt.
Nie habe ich mich überwinden können, dir ... und auch deiner Schwester ... meine wahren Beweggründe dafür mitzuteilen. Ich dachte, so kann ich euch am besten schützen. Aber wenn ich ehrlich sein soll, werde ich mir wohl eingestehen müssen, dass ich einfach ein feiger Mann bin. Ich hatte nie den Mut euch zu erzählen, wie eure Mutter wirklich gestorben ist. Sie ist nicht im Krankenhaus an den Folgen eines Schlaganfalls gestorben. Die Wahrheit ist, der Ozean hat sie verschlungen.
Eine uralte Legende besagt, dass es irgendwo da draußen, einen Ort im Ozean gibt, der so berauschend sein soll, dass man von dort nie wieder fort möchte. An diesem Ort soll alles möglich sein.
Nach dem Verschwinden eurer Mutter, habe ich mich, immer wenn es möglich war, der Suche nach diesem Paradies gewidmet.
Vielleicht hätte ich sie wieder zurückholen können? Ihr hättet wieder eine Mutter haben können. Die Möglichkeiten im Paradies sollen unbegrenzt sein, man muss es nur finden.
Mache nicht denselben Fehler wie ich. Das ist mein allerletzter Wunsch an dich. Lebe deinen Traum, fahr hinaus, entdecke die Weiten und Tiefen des Ozeans, wie du es immer wolltest. Vielleicht findest du das Paradies? Und schaffst das, was ich nicht geschafft habe.
***
Es quietschte, als die Tür geöffnet wurde. Latifas Kopf lugte durch einen kleinen Spalt.
“Darf ich reinkommen?”, fragte sie. Jordan nickte. Sie trat ein und schloss die Tür zu seiner Kabine hinter sich.
“Was liest du da? Ist das der Brief von Paps?”
“Ja, willst du ihn auch lesen?”
“Nein. Paps hat ihn an dich gerichtet. Mir reicht, was du mir dazu erzählt hast. Auch wenn ich schon etwas neidisch bin, dass er nur dir was hinterlassen hat. Aber was soll’s. Wo geht’s jetzt hin? Was ist der Plan? Darüber haben wir noch gar nicht gesprochen."
Jordan grübelte einen Moment, faltete den Brief wieder zusammen und sagte dann: “Kennst du noch Batu, Papas alten Freund?”
Latifa nickte.
“Er hat mir beim Vorbeibringen des Briefes erzählt, dass Paps zuletzt zu einer Insel nordöstlich von hier reisen wollte. Er konnte mir zwar nicht genau sagen, wie sie heißt, aber ein Blick ins Internet sollte die Frage beantworten, denke ich. Dort will ich zuerst hin. Den Ort recherchiere ich noch vorm Schlafengehen, dann können wir morgenfrüh direkt losfahren.”
“Und dann?”
“Das weiß ich um ehrlich zu sein noch nicht. Ich hoffe, die Frage klärt sich dort von selbst. Das ist zumindest der beste Anhaltspunkt, den ich erstmal habe. Ich schätze, Dad hat dort versucht etwas über das Paradies im Ozean herauszufinden. Wo das wohl ist?”
Latifa zuckte die Achseln. Dann setzte sie sich auf den Sessel neben der Tür und blickte nachdenklich auf die Holzwand.
“Keine Ahnung, Jordan. Wenn ich das nur wüsste. Findest du es nicht auch merkwürdig, dass Batu dir den Brief erst jetzt gebracht hat? Glaubst du, dass er es wirklich erst jetzt erfahren hat?“
„Das habe ich mich auch schon gefragt, aber was bringt es darüber zu grübeln? Das ändert doch nichts, oder?“
„Ich weiß nicht. Und dieses Paradies … glaubst du, dass es das wirklich gibt? Was ist, wenn wir es nicht finden? Papa hat scheinbar sein ganzes Leben dafür aufgebracht … warum sollten wir es plötzlich finden?“
“Zusammen schaffen wir alles, Lati”, erwiderte ihr Bruder zuversichtlich. “Das haben wir schon immer und werden wir auch weiterhin. Das ist die Chance herauszufinden, was mit Mum und Dad passiert ist. Die müssen wir ergreifen. Wir erkunden den Ozean, finden das Paradies und was auch immer passiert, gemeinsam packen wir alles.”
Latifa nickte wieder und sagte nichts. Wirklich überzeugt war sie noch nicht. Dabei war normalerweise Jordan der pessimistischere von ihnen.
“Mach dir keine Sorgen, Schwesterherz. Du siehst müde aus.” Jordan stand auf und trat auf sie zu. “Leg dich erstmal schlafen und ruh dich gut aus, ok?”
“Sollen wir nicht erstmal noch gemeinsam nach der Insel schauen?”
“Das schaffe ich auch alleine.”
“Ok. Dann leg ich mich hin. Bis morgen.” Latifa stand auf und hauchte ihrem Bruder einen Kuss auf die Wange. Während er sich schließlich an seinen Laptop setzte, um wegen der Insel, die er ansteuern wollte, zu recherchieren, verließ sie seine Kabine.
***
Der nächste Morgen (Woche 6, Tag 1 - Sonntag)
Latifa streckte sich und hopste anschließend gut gelaunt aus dem Bett. Sie fühlte sich erholt und energiegeladen. Nachdem sie sich kurz im Bad frisch gemacht und etwas Gemütliches angezogen hatte, stieg sie die Treppe zum Wohn- und Kochbereich hoch. Sie wollte mit einem frisch gemixten Saft in den Tag starten. Sie war noch gar nicht oben angekommen, da hörte sie schon ihren Bruder fluchen.
“Das kann doch einfach nicht wahr sein!”
„Komm schon, verdammt!“
Der Laptopdeckel wurde zugeschlagen. Das war es wohl mit dem guten Morgen.
“Was ist denn los?”
“Ich finde die verdammte Insel nicht! Die existiert nicht.” Jordan raufte sich die Haare und stand auf.
“Vielleicht hast du Batu einfach falsch verstanden”, warf Latifa ein und trat an die Saftbar.
“Nein, ich bin mir 100-prozentig sicher. Er hat nordöstlich von Isla Paradiso gesagt. Aber nirgendwo ist etwas dazu verzeichnet. Das kann doch nicht sein.”
Während sie die Früchte für ihren Saft zusammensuchte und in den Mixer schmiss, rieb sich Jordan die Augen und gähnte.
“Hast du überhaupt geschlafen? Du siehst aus wie ein Zombie!”, bemerkte Latifa und startete den Mixer.
Nachdem sie das Mixen gestoppt hatte und mehrere Gläser mit dem frisch gemischten Saft füllte, antwortete Jordan:
“Nein, ich war die ganze Nacht wach und habe nach der Insel gesucht. Weder im Netz noch in unseren Atlassen konnte ich etwas dazu finden. Ich versteh das einfach nicht. Das ist doch nicht möglich.”
Dankbar nahm er ein Glas entgegen und spülte mit großen Schlucken den Saft hinunter.
“Und was machen wir jetzt?”, fragte Latifa.
Jordan schüttelte den Kopf, überlegte.
“Ich weiß, das klingt jetzt wahrscheinlich unglaublich verrückt, aber ich will trotzdem nach Nordosten fahren. Ich meine ... eine Insel kann man doch nicht einfach übersehen, oder?”
“Du bist der Kapitän, wenn du in die Richtung schippern willst, schippern wir eben in die Richtung.”
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