Woche 5, Tag 6 - Freitag
„Ob du nun mitkommen wirst oder nicht. Ich werde mich auf die Suche machen. Mit oder auch ohne deine Hilfe!“, erklärte Jordan entschlossen. „Überlege es dir, Lati. Morgen breche ich auf.“ Mit diesen Worten ließ Jordan seine Schwester stehen und verließ das Haus.
Er zuckte zusammen, als die Tür hinter ihm ins Schloss knallte. Dabei hatte er gar nicht beabsichtigt einen dramatischen Abgang hinzulegen.
Anscheinend wühlte ihn die ganze Situation mehr auf, als er sich selbst eingestehen wollte. Aber das war seine Chance und die ließ er sich nicht nehmen. Auch nicht von seiner Schwester.
Allerdings musste er nicht nur seine Schwester vor vollendete Tatsachen stellen. Noch nie war er sich einer Sache so sicher gewesen und das durfte er nicht aus Liebe zu irgendjemanden umwerfen.
Letztendlich war er überzeugt, dass er seinem Vater mit seinen Plänen die letzte Ehre erwies und damit endlich in seine Fußstapfen treten würde. So lange wurde er zurückgehalten, nun wusste er, was zu tun war. Aber dennoch plagte ihn das schlechte Gewissen. Denn er wusste, was er seiner Freundin damit antun würde.
Per SMS hatte er sich mit Lopita für heute Mittag verabredet. Er hatte sogar überlegt, ob er nicht einfach sang und klanglos verschwinden sollte. Aber das fand er ihr gegenüber nicht fair. Er wünschte seiner Freundin ein glückliches Leben, deswegen durfte er sie nicht im Ungewissen über seine Pläne lassen. Jordan hoffte, dass er ihr damit die Möglichkeit eröffnete ihr wahres Glück zu finden. Auch wenn er vor einigen Wochen geglaubt hatte, dass das für sie beide als Paar bestimmt war, wenn er daran dachte, wie sie sich kennen und lieben gelernt hatten.
Jordan blieb noch etwas Zeit, als er an ihrem vereinbarten Treffpunkt am Strand eintraf. Er sank in den warmen Sand hinab und blickte auf das offene Meer hinaus.
Kreischende Möwen kreisten am Himmel und hier und da schwamm ein Bewohner Isla Paradisos. Auch wenn er seinen Job bereits vor einigen Tagen gekündigt hatte, beobachtete er die schwimmenden Bewohner mit einem wachsamen Auge. Bereit sofort aufzuspringen, wenn jemand in Not geraten sollte. Außerdem war es eine gute Ablenkung, um sich nicht vollends seinen Schuldgefühlen hinzugeben, während er auf Lopita wartete.
Ab morgen wäre der Ozean sein neues Zuhause. Das neue Leben wollte Jordan mit einem möglichst reinen Gewissen starten.
Wie oft hatte er sich als Kind gewünscht mit seinem Vater hinauszusegeln und die Welt zu erkunden. Und wie oft hatte ihm sein Vater diesen Wunsch verwehrt? Jedes verdammte Mal. Dabei wusste Jordan sehr gut, dass George Mitchell, lange bevor er seine Kinder bekommen hatte, ein wagemutiger Segler gewesen war. Tage, Wochen, wenn nicht gar Monate hatte er auf seinem Hausboot gelebt, gefährliche Abenteuer erlebt, faszinierende neue Orte entdeckt und die außergewöhnlichsten Menschen kennengelernt. Hin und wieder war er an Land gekommen, doch die meiste Zeit seines Lebens hatte er auf dem offenen Ozean verbracht.
Auch wenn sein Vater es nie zugegeben hatte, wusste Jordan, dass all die Gute-Nacht-Geschichten, die er ihnen erzählt hatte im Kern auf wahren Tatsachen beruhten. Sie beruhten auf Ereignissen aus seiner Vergangenheit.
Jordan kannte seinen Vater allerdings nur als genügsamen Fischer, der ihm jeden Wunsch verwehrt hatte, der mit dem Hinaussegeln zu tun gehabt hatte. Er sei noch zu grün hinter den Ohren, der Ozean sei viel zu gefährlich, er dürfe seine Verpflichtungen nicht vernachlässigen. Und was es nicht sonst alles für Ausreden gegeben hatte.
Das einzige Ziel für George Mitchell war es gewesen dafür zu sorgen, dass seine Kinder genug zu essen auf dem Tisch hatten und ihnen nicht nur Vater, sondern auch Mutterersatz zu sein.
Jordan seufzte.
„Du bist ja schon da“, hörte er die Stimme seiner Freundin. Kurz darauf setzte sie sich neben ihn in den Sand und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. „Hallo, Schatz!“
Jordan wagte es nicht sie anzusehen. „Hi“, hauchte er leise, ein schwaches Lächeln auf den Lippen.
„Ist etwas passiert?“, fragte Lopita. Sie zog die Augenbrauen zusammen und wollte noch etwas sagen, doch Jordan kam ihr zuvor. „Wir müssen reden.“ Er stand auf und zog sie mit sich hoch. Er zwang sich nun ihr direkt in die Augen zu blicken. Auch wenn ihre Sonnenbrille die Sicht darauf einschränkte.
Kurz und schmerzlos sollte es werden. „Ich werde morgen die Insel verlassen und ich weiß nicht, wann und ob ich jemals wieder zurückkehren werde.“
Lopita blinzelte mehrmals. Sie war verwirrt. Dann entglitten ihr die Gesichtszüge, sie benötigte einen Moment, um zu realisieren, was das bedeuten sollte.
„Und was ist mit uns?“ Ihre Stimme zitterte.
„Es tut mir leid, Lopita“, antworte Jordan.
„Das kannst du mir ... uns nicht antun, Jordan. Einfach so aus heiterem Himmel. Wir haben uns nur zwei Tage nicht gesehen! Da kann es doch nicht plötzlich vorbei sein?!“
Jordan biss sich auf die Lippen. Sollte er versuchen es ihr zu erklären? Konnte man es überhaupt erklären, ohne verrückt zu klingen?
„Hör zu ... die letzten Wochen mit dir waren die besten meines Lebens.“
„Warum willst du das dann einfach wegschmeißen?“
„Ich habe vor einigen Tagen einen Brief von meinem Vater erhalten. Und ich weiß jetzt, dass meine Bestimmung auf dem Ozean liegt, das kann ich nicht einfach ignorieren.“
Lopitas stemmte die Fäuste in die Hüften. So wie sie es immer Tat, wenn sie wütend war.
/Ich muss mich anhören wie ein Verrückter/, dachte Jordan.
„Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?“ Jordan sah, wie ihre Geduld überzukochen drohte. Der Vulkan brodelte bedrohlich.
„Aus irgendeiner dummen Laune heraus, wegen EINEM Brief, willst du unsere Liebe einfach wegwerfen?! Bist du jetzt völlig durchgedreht?“ Die letzten Worte schrie sie ihm ins Gesicht. Sie verschränkte die Arme vor dem Körper. Ein Kopfschütteln, dann wandte sie sich von ihm ab.
„Lopita, du musst mir glauben, dass es nie meine Absicht war dich zu verletzen.“
„Tja, das hat wohl nicht funktioniert“, zischte sie.
„Wegen einem bescheuerten Brief. Den Mist soll ich ernsthaft glauben? Du hast eine andere, oder?“ Jordan sah, dass sie den Tränen nahe war, als es aus ihr herausbrach: „Diese Trulla auf der Party letztens, die sich dir an den Hals geworfen hat, stimmt’s? Von wegen, du wolltest nichts von ihr.“
„Nein, nein, nein ... Lopita, ich schwöre dir, ich habe keine Andere!“, beteuerte Jordan.
„Ich habe dich echt gern, das weißt du.“
„Ah ja ... du hast eine sehr merkwürdige Art das zu zeigen. Was sind das für Spielchen, die du mit mir treibst? Wenn du meinst, was du sagst, beweis es! Bleib hier.“
„Lopita, ich ... ich ... kann nicht.“
„Du bist ein verdammter Heuchler, Jordan!“
„Lopita, lass mich doch erklä ...“
„Nein, ich will nichts mehr hören von deinen Märchen. Ich glaub nicht, dass ich auf dich reingefallen bin. Und ich dachte, es wäre etwas Besonderes mit uns. Du hast mir immerhin das Leben gerettet! Aber ganz offensichtlich wolltest du nur deinen Spaß, nicht wahr? So wie mit deinen anderen Rettungstrophäen. Ich bin fertig mit dir.“
Lopita richtete sich auf, klopfte den Sand von ihrem Kleid und stolzierte erhobenen Hauptes davon.
„Ich hoffe, das werde ich nicht noch bereuen“, murmelte Jordan vor sich hin, während er ihr hinterher sah.
Dann wandte er sich ab und blickte wieder auf die tanzenden Wellen.
Irgendwo da draußen würde er finden, was er suchte.
Das Paradies im Ozean.
Kommentare 13